Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
und bereit sind, daraus zu lernen, auf Erlösung hoffen dürfen. Wenn du Lunetta retten willst und eine Lösung all des Unglücks wünschst und keine weitere Tragödie, dann musst du dich gedulden! Geh in dich!«
»Ich habe deine Belehrungen satt!« Sie wies in den Himmel über ihnen. »Es dämmert doch bereits. Was hält uns noch hier?«
»Wir warten, bis es dunkel ist!«
Sidonia entriss ihm die Karte und steckte sie mit den anderen zurück in ihre Satteltasche. Dann löste sie die Zügel ihres Pferdes von einem Stein und schwang sich auf seinen Rücken.
»Du kannst warten. Ich werde losreiten.«
»Sidonia, du begibst dich in tödliche Gefahr!«
»Ich war tot, als ich nichts fühlte! Sagtest du nicht, ich solle mich mit meinem Schicksal und meinem Schmerz verbünden, um mein Wunder zu erleben?«
»Aber nun verfällst du in neue Maßlosigkeit. Du lässt dein Herz den Verstand regieren.«
Sidonia biss sich auf die Lippen, sie wusste, dass Fadrique Recht hatte. Ja, sie war ganz ihr altes Selbst. Und trotzdem: »Versteh mich doch! Ich muss Gabriel suchen. Und das auf dem schnellsten Weg!«
»Ich bitte dich, zu bleiben, mehr kann ich nicht tun.«
Sie stieß dem Pferd ihre Fersen in die Flanken. Zu ihrem Ärger verfiel es nur in leichten Trab. Sidonia trieb es weiter an, so als befürchte sie, dass der Padre sie zurückhalten würde. Erst als sie den Hang vor sich sah, der die Schluchten der alten Silberminen vom Jakobsweg trennte, sah sie sich um. Der Padre war ihr nicht gefolgt.
Unschlüssig schaute Sidonia nach vorne, sprang vom Pferd und tastete sich zwischen den Bäumen bis zum Wegrand hinauf. Sie spähte nach allen Richtungen. Niemand quälte sich kurz vor Sonnenuntergang noch den Rabanalpass hinauf, der mit einem hohen Kreuz gekennzeichnet war. Sidonia rutschte den Hang wieder hinab, nahm ihr Pferd beim Zügel und zog es zwischen den Bäumen hinauf. Oben angelangt, führte sie es auf den Weg nach Westen und stieg auf. Was riefen die Pilger einander zu? »E ultreia, e suseia« – weiter und voran!
17
Sidonias Pferd ritt wie befreit voran. Die Wolfsschlucht hatte das Tier gelähmt. Sidonia flüsterte ihm aufmunternde Worte zu. Sie fühlte sich leicht, fast schwerelos vor Fröhlichkeit.
Immer näher kam das windschiefe, riesenhafte Passkreuz heran, das aus einem Hügel aus Steinen herausragte. Fadrique hatte ihr erzählt, dass christliche Pilger hier Steine niederlegten, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hatten. Sie warfen mit diesen Steinen ihre Sorgen, Nöte und ihre Wünsche von sich, hieß es. In Wahrheit folgten sie damit einem uralten römischen Brauch, der Merkur, den Gott des Weges, gnädig stimmen sollte.
Fadrique, Fadrique. Sie trug keine Steine bei sich. Aber alle ihre Sorgen würden von ihr genommen, wenn sie Gabriel fand. Alle? Meldete sich eine unwillkommene Stimme in ihr zu Wort. Und was macht dich so sicher, dass er dich sehen will, dass er so empfindet wie du? Wo bleiben deine einstigen Zweifel an ihm? Hat er dich nicht oft verspottet? Vor allem, wenn du so heftig wie jetzt deinem Temperament nachgegeben hast? Hätte er nicht – genau wie vorhin Fadrique – zu mehr Zurückhaltung geraten? Es gab genug, über das sie nachzudenken hatte. Darüber, wie sie Lunetta helfen konnte, Lambert, ihrem Vater. Sie war nicht allein auf dieser Welt, sie hatte Aufgaben, Menschen, die sie liebte. Und einen Feind: Aleander. Ihr Ungestüm durfte ihm nicht ein weiteres Mal in die Hände spielen.
Sidonia konzentrierte sich auf das Kreuz, das im Zwielicht der Dämmerung schwarz zu sein schien. Ein Totenkreuz, dachte sie schaudernd. Ärgerlich hieb Sidonia dem Pferd die Fersen in die Flanken. Es war besser, schneller zu reiten, um bei Nacht bei einer menschlichen Behausung unterzukommen. So wie die Reiter der Santa Hermandad? In den Talsenken glänzten die Schieferdächer abgelegener Dörfer. In einem von ihnen würde sie Rast machen. Das schwor sie sich. Fadriques Einwände waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Ja, sie würde in Ruhe nachdenken, sich zügeln und darauf vertrauen, dass sie Gabriel finden würde. Mit Fadrique. Sie brauchte ihn.
An irgendeiner Stelle des Weges würde sie wieder auf den Padre treffen. Viele Pilger begegneten einander auf dem Weg nach Santiago mehrmals, egal wie langsam der eine oder wie schnell der andere ging. Mal warf eine Verletzung einen Rastlosen zurück, mal trieb den Langsamen eine plötzliche Lust, auf einem Wagen zu reisen, sodass sich die Wege beider
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