Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Märtyrer den Wanderern auf dem langen Weg etwas von seinem Kampfgeist und seinem urchristlichen Wissen. In jedem Fall lösten sich in vielen Pilgern die Zwänge und Bedrückungen, denen sie in ihrer engen Heimat ausgesetzt waren. Niemand, der den Jakobsweg mit wachem Geist ging, kehrte als derselbe zurück, als der er aufgebrochen war. Das konnten auch die vielen Kirchen und erfundenen Heiligengeschichten längs des Weges nicht verhindern. Der Jakobsweg atmete Freiheit und förderte den Mut zu eigenen Gedanken.
Gabriels Laune hob sich beim Eintritt ins Kirchenschiff weiter. Küster trieben Schweine, die sich in die Messe verirrt hatten, durch das Gewimmel. Noch immer läuteten die Glocken. Eine Menschenschlange wand sich auf die Holztreppe beim Hauptaltar zu, die zur Brustfigur Jakobs hinaufführte. Wie jeder andere Pilger stellte Gabriel sich an, um hinaufzusteigen und von hinten den Schutzpatron zu umarmen. Ein paar Gotteswanderer stülpten ihm kurz den eigenen Hut über. Viele hofften auf ein Wunderwerk des Apostels. Taube, so hieß es, mache er in der Kathedrale hörend, Blinde sehend.
Gabriel war Arzt und glaubte nichts von alledem. Trotzdem war er gekommen, um sein Gelübde zu erfüllen. Jenes Gelübde, das er auf dem sinkenden Schiff der Conquistadores abgelegt hatte. So wenig er an hohle Rituale glauben wollte, so sehr trieb ihn die Dankbarkeit für seine zweimalige Errettung aus den Fängen des Meeres.
Während er am Spendenkasten vorbei zu der Figur hochstieg, musste er wieder an Fadrique denken. Der Padre hatte seinen Zweifeln an der Existenz Gottes wieder und wieder milde widersprochen. Nicht eifernd, sondern mit Argumenten: »Bedenke, Gabriel, wie beunruhigend es für die Menschen wäre, den Glauben an das Heil zu verlieren, wenn sie den Sinn für die Sünde doch immer behalten werden. Lasse ihnen ihre Form des Trostes. Der Verstand vermag viel, aber nur der Glaube bietet Schutz und Heimat.«
Vor dem Altar zogen Kirchendiener an Seilen den botafumeiro von der Decke herab. Ein riesiger Weihrauchkessel, der nun von acht Männern in Schwingung versetzt wurde. Schwerfällig bewegte er sich wenige Meter. Erst nach dem Introitus würde er wie eine Glocke durchs Querschiff sausen und sich in schwindelnde Höhe schrauben. Sein Räucherwerk reinigte die Luft von den Ausdünstungen der Pilger, die im Kirchenschiff kampierten, von dem Gestank ihrer Hunde und der umherlaufenden Schweine. Die Kirchendiener, die die Apostelfigur bewachten, begannen, die Gläubigen die Treppe hinabzutreiben. Das Geläut der Glocken verklang, und aus der Sakristei näherte sich der Zug der Priester.
Gabriel legte seine Hände auf den Mantel der Jakobusfigur, stieg auf der anderen Seite die Holztreppe hinab und wurde hinter das Schmiedegitter getrieben, das das Querschiff vom Hauptaltar trennte. Er neigte sein Haupt und schlug das Kreuz. Als er den Blick hob, erstarrte er. Hinter dem Altar stand – neben dem Bischof Tavera – Aleander. Wie hatte es dieser Teufel bewerkstelligt, an Santiagos heiligstem Ort eine so herausragende Position einzunehmen? Erpressung, Intrigen oder Bestechung mussten dahinterstecken!
Bischof Tavera war nie ein Förderer des Inquisitors gewesen. Fadrique hatte in der Gunst des Bischofs immer höher gestanden. Wo zum Teufel steckte der Padre, um Aleander die Stirn zu bieten? Zimenes hatte in Erfahrung gebracht, dass Fadrique ein Gefangener des Klosters San Zoilo gewesen war, sich aber hatte befreien können. Er war geneigt, ihm zu vergeben. Es war dem Padre nicht möglich gewesen, Mariflores zu helfen. Doch warum war er nun nicht in Santiago? Er wusste doch, wie gefährlich Aleander war. Nicht nur für Lunetta, sondern für hunderte seiner Schützlinge.
Chorgesang hob an. Jubelnd stimmten die Pilger mit ein. Alle Augen waren zur Decke gerichtet, unter der in sichelförmigen Schwüngen der Weihrauchkessel hin-und hersauste. Auf den Gewölbegängen des Triforiums, das unter dem Kirchendach entlanglief, scharten sich weitere Messebesucher.
Gabriel entdeckte unter ihnen Mönche in Dominikanertracht. Der Orden der Prediger und Glaubensschnüffler hatte seine Macht in Santiago vergrößert. Zorn verengte seine Brust, und der süße Geruch des Weihrauchs verursachte ihm Übelkeit. Der Chorgesang verstummte, und Bischof Tavera machte sich bereit, die Messe zu zelebrieren. Stille legte sich über die Versammlung. Doch bevor Tavera das Kyrieeleison anstimmen konnte, zerriss ein Schrei die
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