Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
diesem Vormittag eine Grabstatt.
Gabriel Zimenes aber liebte Santiago bei Regen. Der Nebel ließ die schweren Formen der Gebäude verschwimmen, leerte die Straßen, dämpfte Bettlergeschrei und den Zank der Souvenirhändler. Als am Mittag die Glocken der Kathedrale ihr ewig gleiches Lied sangen, strömten die Pilger zur Messe. Ein zerlumptes Volk. Viele gingen barfuß das letzte Stück zur versprochenen Seligkeit. Als Belohnung winkte eine Urkunde über die Verkürzung ihres Aufenthalts im Fegefeuer.
Gabriel Zimenes, der wie die Pilger den regenglänzenden Kathedralplatz überquerte, runzelte die Stirn. Das Fegefeuer war nichts als die Erfindung eines frühen Papstes. Die Hölle war der Kirche nicht genug. Die Androhung einer Vorhölle für jedermann – auch für die Sündenfreien – steigerte die Nachfrage für Ablasszettel, teure Seelenmessen und Kerzenspenden. Gegen Geld versprach die Kirche einen schnelleren und weniger qualvollen Zugang zu Gott. Das war keine Religion der Liebe, sondern eine Religion der Angst.
Er zog sein Samtbarett tiefer in die Stirn und schloss sich den Pilgern am Eingangsportal der Kathedrale an. Einige hielten beim Mittelpfeiler der Portico de la Gloria an, um die Ankunftsrituale zu vollziehen. Sie legten ihre Hand in die Vertiefungen der Marmorsäule, auf der eine Figur Sankt Jakobs thronte. Millionen von Pilgerhänden hatten vor ihnen diesen Handabdruck erschaffen. Die Legende behauptete, er sei dadurch entstanden, dass der Herr die Kirche, deren Hauptaltar früher gegen Sonnenaufgang stand, umgedreht habe.
Kurz streifte Gabriels Blick den Sanct Jago. Er lächelte milde und hatte nichts gemein mit Jakob dem Maurentöter, Jakob dem Judentöter oder Jakob dem Indiotöter, zu dem die Spanier diesen Jünger Jesu gemacht hatten.
Doch noch mehr als der friedfertige Jakob erfreute Gabriel die Figur des bartlosen Daniel im linken Gewände. Es war die einzige Figur auf dem Portal, die lachte. Trunken vor Fröhlichkeit, ein Mann des Volkes. Die Galizier erklärten sich sein Lachen damit, dass er die gegenüberstehende Esther anschaute, insbesondere ihren üppigen Busen. Eine Geschichte, die die Bischöfe Santiagos dazu veranlasst hatte, den Busen Esthers von Steinmetzen verkleinern zu lassen. Daniels Lachen war nicht erstorben, vielleicht hatte es sich sogar vertieft.
Zimenes studierte die Mienen der Gotteswanderer, die ins Kirchenschiff drängten. Einige waren verzückt vom Hochgefühl ihrer Ankunft nach Monaten der Reise, andere schienen enttäuscht. Sinn und Wert ihrer Wallfahrt hatten mehr im Weg gelegen als im Ziel. Es war, als mache die Ankunft ihre hochgespannten Erwartungen mit einem Schlag zunichte.
Darum klammerten sie sich an die Rosenkränze aus schwarzem Gagat, die Muscheln, Heiligenbildchen oder Amulette, die sie als greifbare Erinnerung an ihre Reise gekauft hatten. Andere durchschritten zweifelnd das Tor mit den Bildern vom Weltgericht. Sie würden später mit den Küstern darüber verhandeln, einen Blick in den Sarg des Apostels tun zu dürfen. Das Gerücht, das Grab sei in Wahrheit leer, wollte nicht verstummen. Mehrere französische Kirchen, etwa die von Toulouse, behaupteten, die Gebeine des wahren Jakob lägen unter ihren Altären. In Zeiten allgemeinen Glaubenszweifels nahm auch die Zahl der Reliquienzweifler zu. Was würden diese Pilger empfinden, wenn man ihnen mitteilen würde, was Gelehrte wie Padre Fadrique seit Jahrhunderten vermuteten? Nämlich, dass unter dem Altar und der vergoldeten Brustfigur des Heiligen ein Ketzer ruhte! Die Überreste des römischen Neuchristen Priscillian, der als spanischer Bischof allen kirchlichen Pomp verschmäht, die direkte Gottesschau gepredigt und ein Leben in Armut von allen Kirchendienern verlangt hatte. In Trier hatte man diesen Priscillian im Jahre 385 geköpft. Gegen den Protest des Bischofs von Tours, des späteren Sankt Martin, der diese erste Verfolgung von Christen durch Christen auf das Schärfste verurteilte. Es hieß, Priscillian sei nach der Hinrichtung in seiner Heimat Nordspanien beigesetzt und später fälschlich als heiliger Jakob wiederentdeckt worden.
Zimenes liebte diese Geschichte, für die es sogar Beweise gab. Unter anderem in Fadriques Höhle beim Rabanalpass. Was für eine köstliche Vorstellung, dass Millionen von Gotteswanderern nach Santiago zogen, um einen Mann zu feiern, der leere Kirchenriten als Werk des Frevels und Lästerung des wahren Christus gebrandmarkt hatte! Vielleicht vermittelte dieser
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