Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Andacht.
»¡Asesino!¡Diabolo!« , brüllte ein Mann. Mörder! Teufel!
Wieder fuhren alle Augen nach oben, von wo die Rufe herabklangen und in Brüllen übergingen. Ein Mönch kippte über das Geländer des Triforiums, griff im Sturz nach dem heranschwingenden Weihrauchkessel, wurde von dem Gefäß durch den Chor geschleudert und ließ den brandheißen Kessel schließlich jaulend los. Mit rudernden Armen suchte er Halt im Nichts. Nur einen Wimpernschlag dauerte sein Fall aus dem Kirchenhimmel. Das Schmiedegitter, das den Chorraum umschloss, beendete den Sturz mit grausamer Präzision. Die goldenen Lanzenspitzen spießten den Bruder auf. Seine Todesschreie verstummten. Blut färbte seine weiße Kutte rot. Entsetzensrufe wurden laut.
Gabriel riss seinen Blick von dem Gepfählten los und schaute nach oben. Es herrschte Bewegung auf dem Triforium. Er sah die Uniformen der Santa Hermandad und die weißen Übergewänder der Santiagoritter. Die Gottessoldaten drängten sich durch die Pilger hindurch zu dem Geländer, über das der Dominikanermönch in die Tiefe gestoßen worden war. Es kam zu einer Rauferei: Der übliche Zwist zwischen den Waffenbrüdern der Inquisition und den Ordensrittern, wenn es um die Verhaftung eines Elenden ging.
Gabriel kniff die Augen zusammen. Plötzlich rieselten Blätter wie Konfetti vom Triforium herab. Taumelnd schwebten sie zum Altar nieder. Wieder ertönte ein Schrei. Diesmal war es der Schrei eines Kindes. Ungeformt und voller Schmerz. Gabriel drängte sich durch die wogende Masse der Pilger. Ein Gesicht tauchte über dem Geländer auf, rudernde Arme und Beine. Ein Soldat der Santa Hermandad umklammerte die sich windende Lunetta. Voll Todesfurcht blickte das Mädchen auf die Gläubigen hinunter. In der Menge schien es ein Gesicht zu erkennen, ihr Blick saugte sich daran fest. Gabriel sah sich suchend um, dann fuhr sein Blick erneut nach oben. Wieder öffnete Lunetta den Mund, schloss ihn, schien zu kämpfen, mehr gegen ihre Stummheit als mit dem Soldaten.
»Padre«, schrie sie endlich. Und so, als wolle sie den Klang ihrer wiedergefundenen Stimme nie mehr vergessen, wieder und wieder: »Padre! Flieh!« Dann riss ein Soldat sie von der Brüstung zurück.
Blitzschnell drehte Zimenes sich um, tauchte in der Menge unter, versuchte sich zu einem Aufgang zum Triforium vorzuarbeiten. Vergeblich, die Menge glich einem sich windenden Drachen aus tausend Armen und Beinen. Immer wieder wurde er zurückgedrängt. Zimenes wandte seinen Kopf erneut nach oben. Lunetta war verschwunden.
Der Altar und die Treppe waren nur wenige Schritte entfernt. Gabriel sah, dass der Bischof und die meisten seiner Begleiter geflüchtet waren. Nur einer stand aufrecht wie eine Statue unter der Figur des Apostels. Es war Aleander, der die Menge mit zusammengekniffenen Augen absuchte. Er suchte nach dem Gesicht von Padre Fadrique. Lunetta konnte niemand anderen gemeint haben. In der Hand hielt Aleander einige der Blätter, die eben in die Kirche herabgerieselt waren. Es waren die Karten von Lunettas Tarot. Tödliche Beweise dafür, dass sie eine Hexe war und die Mörderin eines Mönches.
Gabriel Zimenes duckte sich und tauchte in das Gewühl der Menschen ein, die zu den Haupt-und Seitentoren der Kirche drängten. Er musste die Kirche schnell verlassen. Seine Festnahme wäre das Ende aller Hoffnungen für Lunetta. Es gab für ihn keinen Zweifel: Der Mord in der Kathedrale war das Werk Aleanders und sein Ziel der Sieg der Inquisition über einen der letzten Vertreter einer friedlichen Glaubenslehre – Padre Fadrique, den Beschützer von ungezählten Verfolgten. Nur, wo zum Teufel steckte der Mann, nach dem Lunetta so verzweifelt gerufen hatte? Würde er die Familie Zimenes wieder im Stich lassen?
2
Das Bergdorf schwamm in Schlamm wie ein Eierkuchen in Öl. El Acebos einzige Straße war eine Ansammlung aus Dreck und Trostlosigkeit. Es schien, als habe sich das Dorf zum Sterben hingelegt, unfähig, auch nur einen Knochen zu rühren. Die Höfe hinter den Bruchsteinhäuschen waren ein Gemisch aus Pfützen und Mist. Der Regen, der vom Rabanalpass herunterwehte, zwang die Bewohner in ihre höhlenartigen Behausungen.
In einer Kammer über der einzigen Schenke bückte Goswin sich zu einem Loch hinab, das den Namen Fenster nicht verdiente. Grimmig starrte er in den Vorhang aus Regen und suchte das Sträßchen nach Menschen ab. Nichts. Ein Klopfen ließ ihn hochfahren. Er stieß sich den Kopf an den Eichenbalken und
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