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Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)

Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)

Titel: Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisa Brand
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Zärtlich fuhr er über die Phiole mit dem Tropfen Muttermilch Mariens, streichelte den Halm vom Stroh der Krippe Christi und schlug das Kreuz vor dem ledrigen Leichnam eines der von Herodes ermordeten Kinder zu Bethlehem.
    Ein päpstlicher Ablasshändler hatte ihm beurkundet, dass die andächtige Betrachtung dieser Schätze einem Christen gut 11 853 Jahre Fegefeuer ersparten. Wie viel zählte dann erst ihr Besitz!
    Claas van Berck war sein Seelenheil so kostbar wie sein Kaufmannsglück, und beides war eng miteinander verknüpft. Zuletzt hatte er den Daumennagel einer der tausend heiligen Jungfrauen Ursulas an den Kölner Erzbischof übersandt. Daraufhin hatte man Lambert einen Frevel während der Ostermesse – er hatte den Hut aufbehalten, als das Sanctissimum emporgehoben wurde – verziehen.
    Das Versöhnungsgeschenk an den Erzbischof hatte freilich Kölns Rat verärgert. Mit dem Bischof stritt man derzeit über die Steuerbefreiung des kölnischen Klerus, über dessen Recht auf abgabefreien Weinzapf und Bierbrauerei in Klöstern, über Seidenweberei, kostenloses Getreidemahlen und Handel.
    Man wollte gegen die kirchliche Konkurrenz, die alle Preise verdarb, den Kaiser anrufen. Für die geplante Reise der Kölner Gesandten nach Spanien wiederum hatte van Berck einen ordentlichen Betrag ausgelegt. Claas grinste, die meisten Bürger waren zu dumm, das Spiel »Diener zweier Herren« zu spielen und dabei Meister zu bleiben.
    Er kniete sich ächzend in eine Bank, faltete die Hände und senkte den Blick. Er stutzte. Was war das? Unter dem Altartuch lugte ein Stofffetzen hervor. Van Berck erhob sich schwerfällig und zupfte an dem Stoff. Es war eine Fahne, wie sie die Studenten und Handwerksburschen am heutigen Schützentag zur Stadt hinaustragen würden.
    Mit einem Ruck zerrte van Berck das Tuch hervor. Es war ein Rest des flämischen Seidenbrokats, aus dem Sidonias Verlobungskleid geschneidert war. Van Bercks Gesicht nahm die blutrote Farbe der Fahne an.
    »Lambert«, schrie er und riss die Kapellentür auf. »Komm sofort zu mir! Lambert! Du Hundequast, du Lumpensack.« Wer sonst außer seinem Sohn konnte hinter diesem Streich stecken?
    Auf das Tuch waren mit groben Stichen Bildnisse von Gott und Teufel gestickt. Vor dem Allmächtigen flackerte eine Talgfunzel, vor Luzifer brannten zwei Kirchenkerzen. Ein Spottbild, das seit einer Weile in Köln kursierte, auf Klostermauern gemalt und ans Rathaustor genagelt wurde, um anzuzeigen, dass alles, was dort betrieben wurde, aus Eitelkeit und Gewinnsucht geschehe, aber nicht zu Ehren Gottes.
    Was sollte diese Verhöhnung seiner Kapelle vor dem Pfingstfest, dem Geburtsfest der katholischen Kirche? Und das am Tag der Verlobung Sidonias im Beisein einiger der gewaltigsten Herrn der Stadt und der Kirche. Als ob er nicht schon genug Scherereien hätte! Der Ratsherr hatte vorhin höchst anzügliche Bemerkungen wegen eines van Berck’schen Messers gemacht, das man nach dem Mord an seinem Jakobspilger gefunden hatte. Neben einer ketzerischen Orakelkarte.

12
    »Öffne deinen Mund, Kind.« Sanft umfasste der Arzt, den man an seinem gelben Hut als Juden erkennen konnte, das Kinn Lunettas.
    »Nun mach schon«, sagte Sidonia, »du kannst Meister Siebenschön vertrauen. Er ist der Leibarzt meiner künftigen Schwiegermutter und wird niemandem verraten, dass du bei mir bist.«
    Sie saß auf einer Fensterbank ihres Schlafgemachs und mischte ein Kartenspiel. Im Hintergrund füllte eine Magd einen Zuber mit heißem Wasser. Auf einem Hocker lag ein seidenes Narrenkostüm in Kindergröße. Aufmunternd nickte Sidonia Lunetta zu. Das Mädchen öffnete den Mund.
    »Hm«, sagte der Arzt. »Die Zunge hat man ihr nicht herausgerissen.« Er nahm einen Hornspatel und drückte sie herab. »Auch Kehle und Stimmbänder sind unversehrt.« Er streichelte dem Kind über das Haar und drehte sich zu Sidonia um. »Ich entdecke nichts, was ihr Stummsein erklären könnte. Allerdings gibt es Verletzungen der Seele ... Nun, wer weiß, was dieses Kind erlebt hat. Die Welt ist für Bettlerwaisen ein grausamer Ort. Ihr gesunder Wuchs zeigt mir allerdings, dass sie nicht immer auf der Straße gelebt hat und gute Nahrung gewohnt war.«
    Lunettas Miene verschloss sich. Hilfe suchend schaute sie Sidonia an, zu der sie seit ihrer ersten Begegnung im Hafen Vertrauen gefasst hatte. Ihre gestrige Rettung vor dem Dominikaner und dem Bärenführer schienen ihre freundschaftlichen Gefühle für die junge Frau mit dem munteren

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