Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Entschlossen drückte sie die Klinge gegen ihr Handgelenk, schloss die Augen und zog das Messer rasch bis zu ihrer Brust.
25
»Mein Kind, ich werde dich jetzt verlassen, bei Einbruch der Dämmerung sind Juden in Köln unerwünscht. Ich muss die Fähre zum anderen Rheinufer erreichen.«
Meister Siebenschön beugte sich zu Lunetta hinab und legte ihr seine rechte Hand auf die Schulter. Sie standen im Schatten des Domes nahe dem Apostelportal. Über ihnen ragte der Südturm in den Himmel. Wie eine Hutfeder saß ein Holzkran auf dem unvollendeten Dach, während sein nördlicher Turmzwilling nur ein Fragment war. In der Dombauhütte hinter der Kathedrale verhallten letzte Hammerschläge. Das Abendläuten würde das Tagwerk der Schmiede beenden.
»Nimm diesen Pilgerbrief und die Muschel, sie sind deine wichtigsten Ausweise. Mit ihnen bist du von Wegzöllen befreit. Solltest du allein gehen, dann frage nach den Pilgerhospitälern, von denen ich dir eine Liste gab«, sagte der jüdische Arzt zu dem Kind. »Zur Not schlafe unter freiem Himmel! Und öffne den Saum deines Kleides nur, wenn keiner hinschaut. Niemand darf wissen, dass du dein Geld dort eingenäht trägst.«
Er prüfte die Lederriemen des Beutels, den Lunetta über der Brust trug, und schnürte die Kürbisflasche fester. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun, aber Köln ist kein sicherer Ort für dich. Vertraue darauf, dass dein Weg immer auf Gott zugeht, gleichgültig, welcher Gott es ist. Der Herr spricht alle Sprachen, sagt Padre Fadrique.«
Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Mädchens.
»Lunetta, ich kannte ihn in Spanien. Wir studierten gemeinsam in Toledo. Damals gab es noch keine Schranken zwischen Spaniens Christen, Juden und Mauren. Wir waren frei und hofften die Welt Gott näher zu bringen. Fadrique ist ein guter Mann, auch wenn er deine Mutter nicht retten konnte, so half er doch unzähligen anderen wie mir. Versprich, dass du wieder zu ihm gehst.«
Lunetta nickte vorsichtig.
Vornehme Kirchgänger – die Damen behängt mit Perlenschnüren, die Herren in marderbesetzten Schauben – bahnten sich den Weg durch das Bettlervolk vor der Kathedrale. Brezel-und Süßwarenhändler schrien mit langgezogenen Tönen ihre letzten Waren aus. Beginen teilten aus Kannen das Freibier des Domklosters für die Bettlerwaisen aus. Meister Siebenschön betrachtete suchend die Schar der Kinder, die sich um die Frauen drängte.
»Ah, dort ist ein Freund von mir! Folbert, komm her.«
Ein Junge von dreizehn Jahren löste sich humpelnd aus der Kindergruppe. Unter seiner linken Achselhöhle klemmte eine mit Lumpen umwickelte Krücke. Sein rechtes Bein war kurz unterhalb des Knies abgetrennt.
Als er Meister Siebenschön erreichte, zog er eine Kappe vom Kopf.
»Hast du noch Schmerzen in deinem Knie?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Streichst du auch jeden Abend meine Salbe auf?«
Folbert schaute halb zaghaft, halb schelmisch drein. »Gestern hab ich sie gegessen, weil sie so lecker nach Gänseschmalz und Gewürzen roch und ich nichts zu essen hatte.«
Der Arzt schmunzelte. »Tja, dann werde ich die Kräuter beim nächsten Mal wohl mit Petroleum anmischen müssen. Nein, nein, es ist schon gut.«
Er kramte in einer Tasche, die er an der Seite trug, und warf Folbert drei Weißpfennige in die Kappe. »Davon kannst du dir Brot für ein paar Tage kaufen.« Der Junge wollte sich auf seiner Krücke umdrehen, um sich sein Bier zu sichern. Meister Siebenschön hielt ihn zurück.
»Dieses Mädchen muss eine Nacht im Dom verbringen.«
»Im Dom?« Folbert schüttelte den Kopf. »Warum nicht auf der Treppe am Südportal wie wir alle? Es ist ein warmer Sommerabend.«
Der Jude senkte die Stimme. »Ich möchte nicht, dass der Bettlervogt sie sieht. Er würde sie in seine Dienste zwingen wollen, hübsch wie sie ist.« Folbert betrachtete Lunetta genauer. »Hmm, hübsch, aber mager. Und was ist ihr Gebrechen?«
»Sie ist stumm.«
»Das taugt noch weniger als irre sein oder die Fallsucht«, sagte der kleine Bettler abschätzig. »Dafür lässt sich nichts abschnappen. Stummsein nimmt einem keiner ab. Da müsste sie schon ein paar Kniffe lernen. Ist sie flink mit den Händen?«
»Sie ist nicht hier, um Taschendiebereien zu erlernen, und du lass auch die Finger davon, wenn du sie behalten willst!«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Mein Stumpf ist mein Trumpf, sagt der Bettlervogt, und dann knöpft er mir meine halben Einnahmen dafür ab, dass ich beim
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