Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Dom sitzen darf.«
»Nun, Lunetta wird morgen mit einem Rheinschiff, das die Jakobsbruderschaft der Brauer gemietet hat, nach Antwerpen reisen. Von dort will sie zum Grab des Sant Jago in Compostela aufbrechen, um für ihre Heilung zu beten. Damit sie bis dahin keiner belästigt, möchte ich, dass du ihr eines eurer Verstecke im Dom zeigst, die ihr in Winternächten nutzt. Du kennst dich doch aus.«
Folbert nickte.
»Gut, hol dir Bier, und wenn die große Glocke zu läuten beginnt, mischst du dich mit Lunetta unter die Betenden.«
Während Folbert sich zu den Beginen drängte, wandte Meister Siebenschön sich ein letztes Mal an Lunetta. Er ging in die Knie. »Ich habe ein Geschenk für dich, das du noch besser verbergen musst als das Geld von Doña Rosalia.«
Rasch schaute er sich um, dann drückte er Lunetta ein Päckchen in die Hand. »Ich habe es vor vielen Jahren aus Florenz mitgebracht.« Lunetta fühlte, um was es sich handelte, und versenkte das Päckchen in einer Rocktasche. Ein Lächeln streifte ihr Gesicht. Sie legte ihre Arme um Meister Siebenschöns Schultern und presste sich an ihn.
»Heda, Judensohn, was treibst du mit der kleinen Pilgerin? Deinesgleichen hat mit Christenkindern nichts zu schaffen«, schnauzte ein Kaufherr in Seide und spuckte aus. Sein Rotz traf Siebenschöns Wange. Neben dem Kaufherrn tänzelte ein Jagdhund.
Der Arzt löste sich aus der Umarmung Lunettas, erhob und verneigte sich. Lunetta stellte sich auf die Zehenspitzen, wischte ihm die Spucke aus dem Gesicht. Der Kaufmann hob seine Hundepeitsche und riss das Mädchen von dem Arzt fort.
»Weißt wohl nicht, was diese Christusmörder mit Kindern wie dir anstellen? Im Chorgestühl des Doms gibt’s schöne Bilder von der Judensau! Diese perversen Schweine fressen Mädchen wie dich am Karfreitag!«
Meister Siebenschön blieb traurig lächelnd stehen, während die Glocken des Doms zum ersten Geläut aufschwangen. Es war Folbert, der Lunetta aus dem Griff des Kaufmanns befreite. Bettelnd drängte er sich auf den Mann zu. Der ließ Lunetta fahren, um nach dem Jungen zu schlagen.
»Pack dich, du Lausesack, oder ich jag dir meinen Hund auf den Leib! Ich wähl mir meine Bettler selbst, und du siehst mir nicht aus wie einer, der ein anständiges Vaterunser für mich zu sprechen weiß.«
Mit diesen Worten verschwand er im Dunkel der Kathedrale. Folbert schickte ihm einen Fluch hinterher und zog Lunetta zum Domportal. Das Mädchen wagte einen Blick auf die schlanke Jakobusfigur mit der Muschel, die neben den anderen Aposteln im Portalbogen thronte. Sein zweigeteilter Lockenbart erinnerte an Meister Siebenschön und daran, dass Jakobus genau wie Jesus Christus Jude war.
Endlich tauchte sie in das Lichtmosaik ein, das die bunten Glasfenster auf den Boden der Kirche malte. Sie eilte Folbert hinterher, der auf den Kapellenkranz hinter dem Hochaltar zuhumpelte. Gerade noch rechtzeitig huschten sie in die Kreuzkapelle. Nur wenige Augenblicke nach ihnen betrat ein weiß gewandeter Dominikaner das Südschiff. Er wurde von zwei Stockknechten begleitet, die sich nach allen Seiten umschauten.
Nachlässig schlugen sie das Kreuz, während von der Sakristei her der Zelebrant und die Ministranten dem Altar zustrebten.
Weihrauch und die lateinischen Gesänge des Introitus füllten das Kirchenschiff, als Lunetta in der Seitenkapelle unter ein Altartuch schlüpfte. Folbert verschwand. Sie kauerte sich gegen den Stein und lauschte dem Mönchschor. Verse des 34. Psalms schlossen den Eröffnungsgesang: »Domine evagina gladium ...«
Lunetta erschrak, als sie die Stimme eines Mannes vernahm, der die Sätze stockend ins Deutsche übersetzte: »Herr, zücke das Schwert« ... »etpraeoccupa ex adverso persequentum ...« »und schütze mich gegen meine Verfolger ...«
Unter dem Saum des Altartuchs erkannte Lunetta die Beine zweier Kniender. Sie mussten sich auf sehr leisen Sohlen hergeschlichen haben.
»... ihr Weg soll finster und schlüpfrig sein, und der Engel des Herrn verfolge sie ... denn sie haben mir ohne Ursache ein Netz gestellt ... Errette meine Seele ... vor den Löwen. «
»Fliestedten, das ist gut und wahr. Wir brauchen kein Messbuchkauderwelsch, keine Pfaffen, die nur ausgewählte Stellen zitieren. Wir brauchen eine deutsche Bibel, die ganze Wahrheit für jedermann! Die Zeit ist reif.«
Lunetta kannte die aufgeregte Stimme des jungen Mannes, der den Übersetzer auf diese Weise anspornte.
»Ich schwöre dir, weiter dafür zu kämpfen,
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