Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
einem Kind. Lunetta. Sidonia schluckte. Auch sie hatte in den letzten Minuten über nichts als Geld nachgedacht und dabei das Elend des Mädchens vergessen, dessen Wohl Doña Rosalia ihr ans Herz gelegt hatte. Ihrer Liebe zu Lunetta wegen hatte Rosalia ihre Sicherheit riskiert, Sidonia zur Flucht verholfen und ihr letztes Geld hergegeben. Oh ja, es gab Beispiele von Liebe auf dieser Welt, die nichts mit Gier zu tun hatten.
Scham überflutete Sidonia. Reue, weil sie aus Eifersucht so abfällig von der Mutter des Kindes gedacht hatte. Eines Kindes mit todtraurigen Augen.
»Ich werde mich um dich kümmern, Lunetta«, flüsterte sie. »Du wirst geliebt, deine Mutter hat sich nicht geirrt. Und auch Lambert werde ich retten. Ich schwöre es.«
Noch einmal – wie zur Läuterung und Buße – wollte sie die Zeilen von Mariflores überfliegen. Doch dabei begann ihr Magen zu rebellieren, so wie Zimenes es prophezeit hatte. Verfluchter Zimenes. Schnell steckte sie Brief und Buch in ihr Wams. Sie packte die restlichen Bücher zurück in den Lederbeutel und entdeckte dabei eine Börse mit Geld. Schwere, goldene Maravedis und ein geometrisch geformtes Amulett mit einer Götzenfratze, deren Augen Rubine waren. Gabriel hatte sich also schon am Vermögen seines Dienstherrn bedient.
Schnell füllte sie eine Hand voll Münzen in ihre eigene Börse, griff sich auch das Amulett, das aus massivem Gold geschmiedet war. Sie brauchte Geld. Sie, ihre Familie und Lunetta brauchten Geld! Die Maravedis stammten von Adrian, beruhigte sie ihr Gewissen. Das heidnische Amulett bewies es. Es musste aus der Neuen Welt stammen. Sie hatte ein Anrecht darauf. Und Lunetta erst recht. Mehr Anrecht als der Heuchler Gabriel. Dieser Lügner, der sie in diese Kabuse gesteckt hatte, der ... Warum hatte er das getan? Wollte er verhindern, dass sie Adrian von Löwenstein fand? In jedem Fall war sie seine Gefangene. Und er war ganz sicher nicht ihr Retter!
Sidonia überlegte kurz, dann stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich ein anderes Quartier suchen. Auf diesem Schiff musste es ein Versteck geben, und wenn sie in die tiefsten Tiefen seines Rumpfes hinabsteigen würde. Besser allein sein als in der Höhle des Löwen. Warum Löwe? So nannte sich ein anderer Mann, der weit grausamer zu ihr gewesen war als Gabriel Zimenes und weit weniger faszinierend. Zumindest seit sie sein wahres Gesicht kannte. Was, wenn er an Bord war? Sie wischte den Gedanken beiseite. Sie würde sich auch vor ihm verstecken.
Keinen Mann würde sie jemals wieder so nah an sich heranlassen, dass er sie täuschen oder verführen könnte. Ein Gedanke, der ihr seltsamerweise Tränen in die Augen trieb.
8
Hornlaternen beleuchteten notdürftig das Deck, als Lunetta aus dem Laderaum im Schiffsrumpf entlassen wurde. Den ganzen Abend hatte sie Lebensmittel umgeschichtet. Säcke mit Mehl, kleine Fässer mit Pökelschwein und Käselaibe. Die Bewegung der Nahrung sollte verhindern, dass Ratten und Kakerlaken sie verdarben. Danach hatte sie mit den Schiffsjungen den Holzboden mit Essigwasser geschrubbt und Wacholder verbrannt, um das Ungeziefer zu vertreiben. Der Proviantmeister hatte ihr zur Belohnung einen Ausflug an Deck gestattet. Morgen würde sie die Bilge schrubben und bis zu den Knöcheln in stinkender Teerbrühe stehen. Lunetta war dankbar für die harte Arbeit, die Aleander ihr als Bußübung auferlegt hatte. Beim Arbeiten kam sie nicht zum Denken, und der Dominikaner, dessen Geruchssinn empfindlich war, hielt sich vom Unterdeck fern. Er hatte sein Zelt, das auf dem Achterkastell aufgeschlagen war, seit Ablegen der Negrona nicht verlassen. Ihn ekelte die Gesellschaft an Bord.
Er hatte nicht versucht, sie zu töten. Lunetta ahnte, dass er sie noch für nützlich hielt. Aleander von Nutzen zu sein konnte nichts Gutes bedeuten. Sie wusste, dass er der Richter ihrer Mutter gewesen war. Er hatte neben dem Kreuz gestanden, an dem sie festgebunden auf das Entzünden des Scheiterhaufens gewartet hatte. Man hatte sie in ihrem Brautkleid aus weißem Bombasin zur Richtstatt geführt, um sie und ihre Liebe zu Adrian von Löwenstein zu verhöhnen.
Lunetta hatte alles von einem Versteck aus beobachtet. Hatte gesehen, wie der Kopf der Mutter zur Seite gesunken war, bevor das Feuer sie erreichte, die Flammen ihre Haare in eine Fackel verwandelten, ihre Haut aufplatzen ließen. Es war ein so schrecklicher Anblick gewesen, dass sie nicht hatte schreien können. Vielleicht war es ein Fehler gewesen,
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