Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
lenkte Lunetta ihre Blicke in Richtung der Geräusche. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Lunetta erkannte Sidonias Gestalt selbst in Männertracht sofort. Es war wie bei ihrer ersten Begegnung. Sidonia umgab jenes sanfte Leuchten, das Lunetta stets bei den Menschen wahrnahm, die ihr gewogen waren.
Sidonia hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den wiegenden Gang zu üben, mit dem man sich auf einem schwankenden Deck sicher bewegen kann. Sie tastete sich wie eine Betrunkene auf die Reling zu und beachtete das gestikulierende Mädchen am Bug nicht. Das Meer fesselte ihre Aufmerksamkeit. Der Geruch von Salz und Teer, das Flackern der Laternen und die undurchdringliche Schwärze, in die das Schiff hineinfuhr. Das Licht der Sterne zog sie magisch an. Was zählte die vergangene Seekrankheit gegen dieses Erlebnis von Weite und Unendlichkeit. Nie hatte sie sich dem Himmel so nah gefühlt, so klein und groß zugleich. Das Meer, die Nacht, die Sterne – alles war wie ein Wunder und ein Versprechen für einen neuen Anfang.
Was zählte dagegen das Gezänk um die rechte Religion? Sidonia war sich sicher, dass jeder fühlende Mensch, der etwas so Gewaltiges wie dieses Meer unter ausgestirntem Nachthimmel zum ersten Mal sah, keinen Zweifel an der Existenz des Herrn haben konnte. Gabriel Zimenes irrte, er irrte sich gewaltig – sie war alles andere als unberührbar!
Erst als sie sich satt gesehen und Halt gefunden hatte, schaute sie sich auf dem Schiff um. Da war Lunetta! Sie löste die Hände von der Reling und streckte sie dem Kind entgegen. Das Mädchen lief flink zu ihr hin. Beide versanken in einer Umarmung. Für Sidonia war diese Umarmung wie eine Abbitte für ihre Gedanken über die Mutter des Kindes.
Endlich sagte sie: »Was für ein Glück, dass wir uns so wiedertreffen! Oh, Lunetta. Doña Rosalia bat mich, dich zu suchen. Nie hätte ich geglaubt, dass es so einfach sein würde, dich zu finden. Zum ersten Mal enttäuschen mich deine Karten nicht. Stell dir vor, ich habe den Stern gezogen und mich darum entschlossen, an Deck zu gehen und ...«
Weiter kam sie nicht. Eine Hand riss sie herum. Hinter ihr stand Aleander. Das Skapulier seiner Kutte blähte sich im Wind wie die Schwingen eines Raubvogels. Das Licht einer Laterne hob die Konturen seines Gesichts hervor. Sidonia schrie auf und versuchte sich vor Lunetta zu stellen, um sie zu verbergen. Der Mönch lachte.
»Du siehst reizvoll aus, geliebtes Weib. Beinkleider zieren dich.«
Sidonia holte aus, um ihm einen Schlag zu versetzen, doch die Bewegungen des Schiffes ließen sie wieder schwanken. Der Mönch fing ihren Arm ab und zog sie jäh an sich.
Er näherte seinen Mund ihrem Ohr: »Spar dir deine ungestüme Art für unsere Nächte, du weißt, wie sehr du mich damit erleichterst.«
Sidonia atmete heftig, Wut und Tränen stiegen in ihr auf. Das konnte und durfte nicht wahr sein. Sie war ihrem schlimmsten Feind ins Netz gegangen! Hatte sie nicht geahnt, dass er an Bord sein würde? Hatten nicht alle Umstände dafür gesprochen? Rosalias Brief! Ihre langsame Reise mit dem Kaufmannstreck nach Antwerpen. Selbst der Faktor im Kontor des Vaters hatte sie gewarnt und davon abgeraten, die Negrona zu betreten. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Oder auf den Rat der umgekehrten Sternkarte: abwarten! Sie wollte sich aus Aleanders Umarmung freikämpfen. Doch der Mönch zog sie dichter an sich heran.
»Man entkommt mir nicht. Du nicht und dieses Kind auch nicht. Wolltest du sie wieder einmal retten? So wie auf dem Kölner Markt? Lunetta, komm her.«
Mit herunterhängenden Schultern trat das Mädchen hervor. Sidonia sah mit Entsetzen, wie gleichmütig sich Lunetta in ihr Schicksal fügte.
»Scher dich nach unten, bevor ich der Mannschaft Befehl gebe, dich an den Pfahl zu bringen«, sagte der Mönch. »Und lass dich nie mehr an Deck blicken.«
Lunetta lief zum Niedergang im Mittschiff, kletterte hinab. Aleander beobachtete es mit Befriedigung. Dann legte er seine Hand in Sidonias Nacken und drückte zu.
»Deine Flucht aus Köln hat mich verärgert! Im Fernkontor deines Vaters erfuhr ich, dass du die Fahrt nach Spanien machen wolltest. Was hast du dort vor? Mich anklagen?«
Sidonia konnte ihren Kopf nicht bewegen, Aleanders Hand war wie ein Schraubstock. Ihre Wut besiegte die Tränen. Sie spuckte dem Dominikaner ins Gesicht.
Aleander beantwortete die Beleidigung mit einer Ohrfeige. »Wage das nie wieder!«
»Du machst mir keine Angst mehr. Du hast mir bereits das
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