Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
alleinige Autorität zu deren Auslegung haben. Bald wird jedermann die Welt mit seinen Schmierereien überziehen. Wie zu Babel wird große Verwirrung herrschen. Statt einer wird es tausend Wahrheiten geben, und die Heilige Schrift wird ein Buch unter vielen sein. Wollt ihr das? Der Kaiser will es nicht, er hasst Luther! Er hasst Ketzer. Jeden von ihnen und egal welchen Standes!«
Tavera nahm flink auf seinem Lehnstuhl Platz. »Natürlich, natürlich. Aber wir brauchen gebildete Menschen, Denker. Die Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien und die Vernichtung ihrer Wissenschaftler waren und sind gottgefällige Werke, doch nun müssen Christen die Lücken schließen. Fadrique zog viele kluge Köpfe nach Santiago. Er ist unersetzlich.«
Aleander nickte. »Gewiss. Und ebendarum schaffte ich ihn an einen sicheren Ort. In Santiago wäre seine Aburteilung nicht zu verhindern und meine heilige Pflicht gewesen. Er gestand mir in der Beichte, vom rechten Glauben abgekommen zu sein.«
Verblüfft schaute Tavera auf.
Aleander hinkte auf ihn zu, sein Gang erinnerte an ein seitwärts laufendes Schalentier. Langsam zog er ein Schreiben aus seiner Brust. »Hierin versicherte er mir, dass er sich in ein Kloster bei San Zoilo zurückziehen wolle, um Buße zu tun, möchtet Ihr es lesen? Ihr kennt seine Schrift!«
Tavera hob abwehrend die Hand: »Ich weiß, dass du jedes Geständnis zu erwirken weißt. Daumenschrauben und der spanische Stiefel ...«
Jetzt ging Aleander ans Fenster, drehte dem Erzbischof frech den Rücken zu und schüttelte den Kopf. »Oh nein, die Folter war in diesem Fall nicht nötig.« Ein Rascheln verriet ihm, dass Tavera das Schreiben des Padres studierte.
Tatsächlich hatte Fadrique, der in Santiago Aleanders lästigster Gegner war, den Handel selber angeboten: sein Rückzug aus der Apostelstadt gegen die Freiheit von Mariflores und einen Geleitbrief für Gabriel Zimenes in die Neue Welt. Mariflores war später zurückgekehrt. Eine verliebte Hure! Aleander hatte sie mühelos verurteilen können, um ihre Ehe mit seinem Bruder Adrian zunichte zu machen, während dieser nach Westindien segelte.
Trotz dieses Triumphes stieg bei der Erinnerung an Fadriques Opfer für die Zimenes-Geschwister Wut in Aleander hoch. Zimenes! Von Anfang an war er Fadriques Lieblingsschüler gewesen. Und das, obwohl er offen Gedanken äußerte, die die Existenz Gottes in Frage stellten, und obwohl er von geringster und ungeklärter Herkunft war. Oder vielleicht genau darum?
Fadriques Liebe hatte immer schon den Verfolgten gegolten. Ihn selber, Aleander, hatte er für solch einen Verfolgten gehalten und ihn auch so behandelt! Ihn! Er hatte sich früh geschworen, niemandes Opfer zu werden – ohne Fadriques gütige Hilfe. Er würde selbst ein Verfolger sein. Der mächtigste von allen. Er war es geworden: Der Löwe des Glaubens. Sein Blick schweifte über den Kathedralplatz, über all die Köpfe der Frommen und weniger Frommen, die er mit einem Federstrich vernichten konnte, auspusten wie eine Kerze.
Er sah den Konvent des San Jeronimo, das Studentenheim des Hieronymitenordens, in dem er mit Zimenes gewohnt hatte, erinnerte sich, wie sie täglich Seite an Seite durch das Portal voller Heiligenfiguren zur Universität gegangen waren. Das beißende Gefühl des Neides holte ihn wieder ein, auf Zimenes, den fröhlichen, kraftvollen Jüngling, der ihm stets einen Schritt vorauslief.
So flink wie der dunkle Kerl, der jetzt auf den Konvent zueilte. Aleander stutzte, diese Locken, der federnde Gang. Er kniff die Augen zusammen: Das war unmöglich. Sein Puls beschleunigte sich. Es war unmöglich! Die Hitze, das Licht spielten ihm einen Streich! Zimenes war tot, so tot wie ein Sargnagel.
11
»Bruder Aleander, was ist mit dir, lässt dein Gewissen dich endlich schwanken? Falls du ein Gewissen besitzt.« Die Stimme des Erzbischofs holte den Dominikaner in die Gegenwart zurück.
Aleander verschloss sich energisch vor weiteren Erinnerungen, die sich zu Gespenstern formten, wie dem Gespenst des toten Gabriel vor der Kathedrale. Er drehte sich mit unbewegter Miene zu Tavera um.
»Mein Gewissen ist ruhig. Ich habe in Fadriques Fall äußerste Milde herrschen lassen, weil er zu meiner Familie gehört. Die Liebe zu meinem ehemaligen Lehrer Fadrique machte mich blind ...«
Tavera lachte verächtlich. »Liebe? Die Bürger Santiagos nennen dich nur den Blutigen. Wie viele von ihnen hast du schon ins Feuer geschickt?«
»Bislang 43 und alle von
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