Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
verloren.«
»Nein«, sagte der Hirte, »denn die Brüder wissen nichts über dieses Tal. Simuel hielt sich treu an seinen Wahlspruch: Am Baum des Schweigens reift die Frucht des Friedens. Er war und bleibt der Beschützer eurer Gemeinde. Und damit ihr sicher bleibt, werde ich euch verlassen.«
Der Priester erhob sich zitternd. »Das musst du nicht tun. Wir wollen es nicht, wir haben dir zu viel zu verdanken ...«
»Doch«, rief Elena erregt, »doch, wir wollen es. Wir wollen, dass du gehst und diese Frau mit dir nimmst! Es ist genug Unglück geschehen, wir haben ein Recht auf unseren Frieden.«
Jona sprang vom Tisch auf. »Wenn ihr Sidonia fortschickt, werde auch ich gehen! Hörst du, Mutter, ich werde gehen. Eher will ich sterben, als hier für immer lebend begraben zu sein, abgeschnitten von allen anderen Menschen. Ich gehe, so wie Gabriel und Mariflores gegangen sind.«
Elena schluchzte laut auf und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus. »Nein, du kannst nicht gehen. Du weißt nicht, was aus denen geworden ist, die das Tal verließen. Sie sind tot. Sie sind alle tot!«
»Ich ...«, begann Jona. Doch weiter kam er nicht. Der Hirte ließ seinen Krummstab auf seinen Hinterkopf niedersausen, dann wandte er sich an Elena, die neben ihrem bewusstlosen Sohn kauerte.
»Das sollte ihn zunächst beruhigen. Mehr kann ich nicht tun. Gebt auf ihn Acht, und lebt wohl.« Er drehte sich zur Tür.
»Und was ist mit dieser Frau?«, fragte Elena.
»Ich werde den Hirten begleiten«, sagte Sidonia. Aufrecht stand sie in der Tür. In der Ferne schlug die Glocke zwölf Mal an.
»Oder habt Ihr etwas dagegen, Padre Fadrique?«
10
Aleander ritt mit geradem Rücken. Seine Begleiter bewunderten und verfluchten seine Ausdauer. Mehr als zwölf Stunden verbrachte ihr Herr am Tag im Sattel, so als wolle er es mit kaiserlichen Botenreitern aufnehmen, die täglich bis zu 40 Meilen zurücklegten. Er wechselte die Reittiere alle zwei Tage, nahm im Sattel seine Mahlzeiten entgegen, die aus wenig Brot, einer Hand voll Oliven und etwas Wasser aus einem Trinkschlauch bestanden.
In fünf Tagen bewältigten sie die Küstenstrecke, brauchten noch einen Tag durch die flachen Ausläufer der Kordilleren und ritten am Nachmittag des siebten Tages in Santiago ein.
Sie nahmen die Porta do Camiño, jenes Stadttor, durch das die meisten Pilger eintraten. Kaum einer dieser frommen Wanderer war nicht erschöpft, ergriffen und bereit, die Wunder der Apostelstadt – die man das »steinerne Gedicht« nannte – zu bestaunen. 46 Kirchen und 114 Glockentürme erwarteten den Gläubigen. Außerdem der Portico de la Gloria, das Wonneportal der Kathedrale, dessen Durchschreiten die Vergebung der Sünden verhieß. Kostbar bemalte Apostel, Engel, Dämonen und Gottvater selbst bebilderten auf dem Portal das Weltgericht. Es war das Stein gewordene Versprechen, dass Erlösung und der Eintritt in die Seligkeit nur Schritte entfernt sind.
Aleanders Trupp sprengte über das Granitpflaster der Gassen. Funken sprangen von den Hufen. Bürger und Pilger drückten sich gegen die Mauern der Klöster und Paläste der Calle de las Casas Reales.
Hier war einst die Großmutter des Kaisers, Johanna die Wahnsinnige, abgestiegen, um zu beten, zu beichten und den Leichnam ihres Gatten, den sie über ein Jahr mit sich herumführte, wieder zum Leben zu erwecken. Ein Wunder, dass der heilige Jakob nicht wirkte. Und auch kein anderer Heiliger, dessen Gebeine sie in den Bleisarg legen ließ.
Einige Pilger neigten die Knie, als sie die Tracht Aleanders, eine weiße Prunkkutte mit dem Wappen der Inquisition, erkannten: Kreuz, Olivenzweig und Schwert. Die Bedeutung der drei Symbole war schlicht: »Wenn du das Kreuz annimmst«, so verhießen sie dem angeklagten Ketzer, »geben sie dir den Friedenszweig. Wenn du dich weigerst, geben sie dir das Schwert.«
Eine Wahlmöglichkeit, die jedoch weder getaufte Juden noch konvertierte Mauren hatten. Der Generalinquisitor Tomas de Torquemada hatte die Bedingungen für die Aufnahme in das rettende Schiff der Kirche im Jahr der großen Verfolgung 1492 verschärft. Nur wer die Reinheit seines Blutes – die limpieza de sangre – und eine Ahnentafel frei von jüdischen oder maurischen Vorfahren nachweisen konnte, hatte im Falle eines Ketzervorwurfs eine Chance, dem Henker zu entgehen.
Alle anderen – egal ob sie auf Generationen getaufter Ahnen verweisen konnten – galten als Marranen, kurz: Schweine und Verräter. Denen war alles zuzutrauen.
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