Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Hals wie Gräten.
Wenigstens dieses eine Gebet, er erreicht die leere Plattform, wurde erhört.
Die Shenandoah segelt draußen in der Bucht von Nagasaki. In ihrem Kielwasser ziehen Schlepper wie unerwünschte Gössel. Die zum offenen Meer hin sich verjüngende Bucht, die dichten Wolken und die wogenden Segel der Brigg erwecken den Eindruck, als würde ein Buddelschiff aus seiner Flasche gezogen.
Jetzt weiß ich , denkt Jacob, warum ich den Wachtturm, für mich allein habe.
Die Shenandoah feuert mit ihren Geschützen Salut für die Küstenwache.
Welcher Gefangene will schon zusehen, wie die Kerkertür zugestoßen wird?
Der Wind pflückt Rauchfahnen wie Blütenblätter aus den Stückpforten der Shenandoah ...
... und die Schüsse hallen wider wie der knallende Deckel eines Cembalos.
Der weitsichtige Sekretär nimmt die Brille ab.
Der burgunderrote Fleck auf dem Achterdeck ist ganz sicher Kapitän Lacy ...
... dann muss der olivgrüne der unbestechliche Unico Vorstenbosch sein. Jacob stellt sich vor, wie sein einstiger Mentor den Untersuchungsbericht der Misswirtschaft dazu benutzt, die Beamten der Kompanie zu erpressen. «Die Münzstätte der Kompanie», könnte er jetzt sehr überzeugend anführen, «braucht einen Direktor, der über meine Erfahrung und meine Diskretion verfügt.»
Landwärts sehen die Bewohner Nagasakis von ihren Dächern aus der Abfahrt des niederländischen Schiffes zu und träumen von seinem Zielhafen. Jacob denkt an Schicksalsgenossen und seine Mitreisenden aus Batavia, an Kollegen in den zahlreichen Kontoren, in denen er als Expedient gearbeitet hat, an Klassenkameraden in Middelburg und Domburger Freunde aus Kindertagen. Sie sind in die weite Welt hinausgezogen, um ihr Glück und eine liebevolle Ehefrau zu finden, während ich mein sechsundzwanzigstes, siebenundzwanzigstes, achtundzwanzigstes, neunundzwanzigstes und dreißigstes Lebensjahr - meine letzten guten Jahre - gefangen in einer todgeweihten Faktorei zubringen muss, umgeben von allem menschlichen Treibgut, das ans Ufer gespült wird.
Er hört, wie unter ihm im Haus des Stellvertreters ein klemmendes Fenster geöffnet wird.
«Vorsicht mit den Polstermöbeln», befiehlt Fischer, «du Esel ...»
Jacob sucht in seinem Tabaksbeutel nach ein paar letzten Krümeln, aber der Beutel ist leer.
«... oder willst du, dass ich sie mit deiner kackbraunen Haut flicke. Kapiert?»
Jacob stellt sich vor, dass er nach Domburg zurückkehrt und im Pfarrhaus auf lauter fremde Gesichter trifft.
An der Richtstätte auf dem Fahnenplatz vollziehen Priester Reinigungsrituale.
«Wenn Sie Priester nicht bezahlen», hat Kobayashi van Cleef gestern gewarnt, als Jacob noch einer glänzenden, ja goldenen Zukunft entgegenblickte, «Geister von Dieben finden keine Ruhe und werden zu Dämonen. Dann kein Japaner kommt mehr nach Dejima.»
Krummschnäblige Möwen kämpfen über einem Fischerboot, das seine Netze einholt.
Die Zeit vergeht, und als Jacob wieder hinaus in die Bucht blickt, sieht er eben noch, wie der Bugspriet der Shenandoah hinter dem Tempelhoek verschwindet ...
Dann wird erst das Vorschiff von der felsigen Landzunge verschluckt, dann die beiden Masten ... ... bis der Flaschenhals so blau und leer ist wie am dritten Tag der Schöpfung.
Eine durchdringende Frauenstimme reißt Jacob aus dem Halbschlaf. Sie ist ganz nah, und sie klingt zornig oder ängstlich oder beides. Neugierig blickt er sich nach dem Grund für das Geschrei um. Auf dem Fahnenplatz sprechen die Priester noch immer Gebete für die Hingerichteten.
Die Landpforte ist geöffnet, um den Ochsen des Wasserhändlers an Land zu lassen.
Vor dem Tor verhandelt Aibagawa Orito mit den Wachposten.
Der Wachtturm schwankt: Jacob hat sich unwillkürlich flach auf den Boden gelegt, damit sie ihn nicht sehen kann.
Sie fuchtelt mit dem hölzernen Passierschein und zeigt auf die Kurze Straße.
Der Hauptmann der Wachen mustert den Passierschein argwöhnisch; sie blickt sich nervös um.
Der Ochse, beladen mit zwei leeren Wasserurnen, wird über die Holland-Brücke geführt.
Sie war ein Fieber. Jacob kneift die Augen zu. Das Fieber ist von mir gewichen.
Er öffnet die Augen. Der Hauptmann mustert noch immer den Passierschein.
Ist sie etwa gekommen , denkt er, um Schutz vor Enomoto zu suchen?
Sein Heiratsantrag kehrt zu ihm zurück wie ein zum Leben erwachter Golem.
Ja, ich wollte sie , gesteht er sich bange ein, solange ich wusste, dass ich sie niemals haben kann.
Der
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