Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
aufgeschichtet. Sie stellt den Reissack auf die erhöhte Veranda. Alles tut ihr weh. Sie sieht nach den Ziegen im Stall und legt einen halben Ballen Heu hinein. Zuletzt wirft sie einen Blick zu den Hühnern. «Ob wohl jemand ein Ei für die Tante gelegt hat?»
Im dunklen Stall findet sie eins. Es ist noch warm. «Vielen Dank, meine Damen.»
Sie verriegelt die Haustür für die Nacht, kniet sich mit der Zunderbüchse vor die Kochstelle und entfacht ein Feuer. In einem Topf bereitet sie eine Suppe aus Yams und Klettenwurzel. Als sie heiß ist, gibt sie das Ei hinein.
Der Arzneischrank ruft sie ins hintere Zimmer.
Patienten und Besucher staunen über den schönen Schrank, der fast bis zur Decke ihres bescheidenen Häuschens reicht. Sechs bis acht starke Männer hatten ihn zu Lebzeiten ihres Ururgroßvaters aus dem Dorf heraufgetragen, aber als Kind war es einfacher gewesen, zu glauben, er sei hier im Haus gewachsen wie ein alter Baum. Sie öffnet die gutgeölten Schubladen und atmet die verschiedenen Gerüche ein. Toki-Petersilie, gut gegen Koliken bei Kindern, bittere Yomogiblätter, getrocknet und zermahlen für die Moxibustion, und als Letztes in dieser Reihe Dokudamibeeren oder «Fischwurz», um Gifte auszuschwemmen. Der Schrank ernährt sie und ist der Hort ihres Wissens. Sie riecht seifige Maulbeerblätter und hört die Stimme ihres Vaters: «Gut gegen Augenleiden ... und in Verbindung mit Ziegenkraut gegen Geschwüre, Würmer und Furunkel ...» Dann kommt Otane zum bitteren Herzgespann. Das Kraut erinnert sie an Fräulein Aibagawa, und sie geht zurück zum Feuer.
Sie legt ein großes Holzscheit ins glimmende Feuer. «Eine zweitägige Reise von Nagasaki», sagt sie, «um ‹Otane aus Kurozane um eine Audienz zu bitten›. Das waren Fräulein Aibagawas Worte. Ich grub gerade Mist unter meine Kürbisse ...»
Das Feuer spiegelt sich in den klaren Hundeaugen.
«... als der Dorfvorsteher höchstpersönlich und der Priester an meinem Zaun auftauchten.»
Die alte Frau kaut auf einer zähen Klettenwurzel und erinnert sich an das verbrannte Gesicht.
«Ist das wirklich schon drei Jahre her? Es kommt mir vor, als wären es höchstens drei Monate.»
Der Hund dreht sich auf den Rücken und legt den Kopf auf die Füße seiner Herrin.
Er kann die Geschichte auswendig, denkt Otane, aber er lässt sie mich gerne noch einmal erzählen.
«Ich sah das verbrannte Gesicht und dachte, sie wolle sich behandeln lassen, aber dann stellte sie der Dorfvorsteher als die Tochter des berühmten Doktor Aibagawa und Anwenderin der niederländischen Geburtshilfe vor - als wüsste er, was das bedeutet! Dann fragte sie mich, ob ich ihr Kräuterbehandlungen für die Entbindung empfehlen könne, und ich dachte, meine Ohren treiben Scherze mit mir.»
Otane rollt ein gekochtes Ei über den Holzteller.
«Als sie sagte, der Name Otane ans Kurozane gelte bei Apothekern und Gelehrten in Nagasaki als Siegel für Reinheit, war ich entsetzt, dass so erhabene Leute meinen niederen Namen kannten ...»
Die alte Frau pult mit ihren von Beeren rot gefärbten Fingernägeln die Eierschale ab und denkt daran zurück, wie würdevoll Fräulein Aibagawa den Dorfvorsteher und den Priester fortschickte und wie aufmerksam sie Otanes Ausführungen niederschrieb. «Sie schrieb so flüssig wie ein Mann. Für Yakumosō interessierte sie sich besonders. ‹Schmieren Sie es auf Risse im Schoß›, erklärte ich ihr, ‹das schützt vor Fieber und lässt die Haut heilen. Es hilft auch, wenn die Brustwarzen vom Stillen entzündet sind ...›» Otane beißt in das gekochte Ei, und ihr wird warm ums Herz, als sie sich daran erinnert, wie wohl sich die Samuraitochter in der ärmlichen Hütte zu fühlen schien, während ihre beiden Diener den Ziegenstall reparierten und eine Wand ausbesserten. «Weißt du noch, als der älteste Sohn des Dorfvorstehers uns mittags zu essen heraufbrachte?», sagt sie zu dem Hund. «Geschälter weißer Reis, Wachteleier und gedämpfte Seebrasse in Bananenblättern ... Wir kamen uns vor, als wären wir im Palast der Mondprinzessin!» Otane hebt den Deckel vom Kessel und wirft eine Handvoll großblättrigen Tee hinein. «Ich habe an diesem Nachmittag mehr geredet als das ganze Jahr. Fräulein Aibagawa wollte mir ‹Studiengebühr› bezahlen - aber wie hätte ich ihr auch nur einen Sen berechnen können? Also kaufte sie meinen gesamten Vorrat an Herzgespann, aber für das Dreifache des üblichen Preises ...»
Die Dunkelheit gegenüber
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