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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Glas ritzen. Meine Brandnarbe, möchte Orito sagen, macht das Verbrechen meiner Entführung nicht geringer.
    «Lass uns die letzten Futons ausklopfen», sagt sie, «bevor die anderen denken, dass wir faulenzen.»

    Am Nachmittag ist die Hausarbeit beendet. Über dem Teich im Innenhof liegt noch ein Dreieck aus Sonnenschein. Im Langen Raum hilft Orito Hausmutter Satsuki beim Ausbessern der Nachthemden: Das Nähen, stellt sie fest, dämpft ihr Verlangen nach dem Trost. Vom Platz auf der anderen Seite des Schreins dringen leise die Kampfgeräusche der Mönche herüber, die mit ihren Bambusschwertern üben. Holzkohle knistert im Kohlenbecken, Piniennadeln knacken. Äbtissin Izu sitzt am Kopf der Tafel und stickt ein kurzes Mantra in die Kapuzen, die die Schwestern bei der Gabenspende aufsetzen werden. Hashihime und Kagerō, geschmückt mit blutroten Schärpen als Zeichen der Gunst der Göttin, pudern sich gegenseitig das Gesicht: Einer der wenigen Gegenstände, der selbst den Schwestern von höchstem Rang verwehrt bleibt, ist ein Spiegel. Mit kaum verhohlener Bösartigkeit erkundigt sich Umegae bei Orito, ob sie sich von der Enttäuschung erholt habe.
    «Ich lerne allmählich», überwindet sich Orito, «mich dem Willen der Göttin zu fügen.»
    «Bestimmt erwählt dich die Göttin beim nächsten Mal», sagt Kagerō zuversichtlich.
    «Die Jüngste Schwester», bemerkt die blinde Minori, «klingt zufriedener in ihrem neuen Leben.»
    «Es hat auch lange genug gedauert», murmelt Umegae, «bis sie zur Vernunft gekommen ist.»
    «Bei manchen dauert es eben, bis sie sich an das Haus gewöhnen», erwidert Kiritsubo. «Erinnert ihr euch an das Mädchen von den Goto-Inseln? Zwei Jahre lang hat sie jede Nacht geweint.»
    Tauben raufen und gurren im Gesims über dem Wandelgang.
    «Die Schwester von den Goto-Inseln hatte viel Freude an ihren drei gesunden Gaben», bemerkt Äbtissin Izu.
    «Aber nicht an der vierten», seufzt Umegae. «An der ist sie gestorben.»
    «Wir wollen die Toten nicht stören», die Stimme der Äbtissin bekommt einen scharfen Klang, «indem wir grundlos Unglücksfälle ausgraben, Schwester.»
    Umegaes kastanienbraune Haut verbirgt ihr Erröten, aber sie senkt demütig den Kopf.
    Die anderen Schwestern, vermutet Orito, haben das Bild ihrer erhängten Vorgängerin vor Augen.
    «Ich», sagt die blinde Minori, «würde lieber wissen, was der Jüngsten Schwester dabei geholfen hat, das Haus als ihr Zuhause anzunehmen.»
    «Die Zeit», Orito fädelt einen Faden ein, «und die Geduld meiner Schwestern.»
    Du lügst, du lügst , pfeift der Kessel, selbst ich höre, dass du lügst ...
    Je stärker ihr Verlangen nach dem Trost, fällt Orito auf, desto schlimmer die Streiche, die das Haus ihr spielt.
    «Ich jedenfalls danke der Göttin jeden Tag dafür», Schwester Hatsune zieht neue Saiten auf ihr Koto, «dass sie mich in dieses Haus gebracht hat.»
    « Ich danke der Göttin», Kagerō schminkt Hashihimes Augenbrauen, «einhundertachtmal vor dem Frühstück.»
    Äbtissin Izu sagt: «Schwester Orito, ich glaube, der Kessel ist durstig ...»
     
    Als Orito sich auf die Steinplatte kniet, um Wasser aus dem eiskalten Teich zu schöpfen, erzeugt das Licht der Abendsonne einen Spiegel so klar wie holländisches Glas. Orito hat ihr Gesicht nicht mehr gesehen, seit sie ihr altes Zuhause in Nagasaki verlassen hat: Der Anblick ist erschütternd. Das Gesicht auf der silbrig glänzenden Oberfläche gehört ihr, aber es ist um drei, vier Jahre gealtert. Was ist mit meinen Augen passiert? Sie sind eingesunken und trüb. Ein weiterer Streich dieses Hauses. Aber da ist sie sich nicht so sicher. Solche Augen habe ich in der Unteren Welt schon gesehen.
    Das Lied einer Drossel in der alten Pinie klingt halb vergessen und wirr.
    Woran wollte ich mich gleich erinnern? Orito ist ganz benommen.
    Schwester Hotaru und Schwester Asagao winken ihr aus dem Wandelgang zu.
    Orito winkt zurück, sieht die Schöpfkelle in ihrer Hand und erinnert sich an ihren Auftrag. Sie blickt ins Wasser und erkennt die Augen einer Prostituierten, die sie in einem Bordell in Nagasaki behandelt hat. Das Mädchen, das zwei chinesischen Halbbrüdern gehörte, litt an Syphilis, Skrofulose, Lungenfieber und vielen anderen Krankheiten, deren genaue Zahl nur die Neun Weisen kannten, aber es war die Opiumsucht, die ihre Lebensgeister zerstört hatte.
    «Aber Aibagawa-san», hatte das Mädchen sie angefleht, «ich brauche keine andere Medizin ...»
    Vorzutäuschen, dass

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