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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Eierstöcke und Gebärmütter der Göttin gehören, sondern ihnen dabei helfen, die Knechtschaft zu ertragen ...

    Orito liegt in ihrer Zelle und blickt durch ein Loch in der Bettdecke ins Feuer. Ein Mann hat vor einiger Zeit Kagerōs Zelle verlassen, aber Hashihimes Gabenspender bleibt länger, was bisweilen vorkommt, wenn beide Seiten einverstanden sind. Alles, was Orito über die körperliche Liebe weiß, stammt aus Medizinbüchern und den Anekdoten der Frauen, die sie in den Bordellen Nagasakis behandelt hat. Sie versucht den Gedanken zu verscheuchen, dass heute in einem Monat vielleicht ein Mann unter dieser Decke liegt und sie auf das Futon drückt. Verzehre mich , bittet sie das Feuer. Nimm mich in dir auf, bittet sie die Dunkelheit. Ihr Gesicht ist nass von Tränen. Wieder einmal sucht sie das Haus der Schwestern in Gedanken nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Es gibt kein Außenfenster, durch das sie fliehen könnte. Der Boden ist aus Stein, sodass sich kein Tunnel graben lässt. Beide Tore sind von außen verriegelt, zwischen ihnen steht ein Wachposten. Die Traufen über dem Wandelgang sind zu hoch, als dass sie hinüberklettern könnte.
    Es ist aussichtslos. Sie starrt einen Dachsparren an und stellt sich ein Seil vor.
    Es klopft. Yayoi flüstert: «Ich bin’s, Schwester.»
    Orito springt aus dem Bett und öffnet die Tür. «Ist die Fruchtblase geplatzt?»
    Yayois schwangerer Leib wirkt durch mehrere Decken noch dicker. «Ich kann nicht schlafen.»
    Orito zieht sie rasch ins Zimmer, aus Furcht vor dem Mann, der plötzlich aus dem Dunkel treten könnte.
    «Es wird erzählt ...», Yayoi wickelt sich eine Strähne von Oritos Haar um den Finger, «... dass meine Eltern den buddhistischen Priester holten, als ich so ...», sie tippt sich an die Spitzohren, «... auf die Welt kam. Er erklärte ihnen, ein Dämon sei in meine Mutter gefahren und hätte wie ein Kuckuck ein Ei in ihren Schoß gelegt. Wenn sie mich nicht in derselben Nacht aussetzten, warnte er, würden Dämonen ihren Nachwuchs holen und die ganze Familie zerstückeln und als Festmahl verspeisen. Mein Vater vernahm die Worte des Priesters mit Erleichterung: Es war üblich, dass die Bauern ‹ihre Sämlinge sichteten›, um sich unerwünschter Töchter zu entledigen. Unser Dorf hatte sogar einen eigenen Ort dafür: ein Kreis aus spitzen Steinen in einem ausgetrockneten Flussbett oberhalb der Baumgrenze. Es war der siebte Monat, und so würde ich nicht erfrieren, aber wilde Hunde, hungrige Bären und Geister würden mich mit Sicherheit töten. Mein Vater legte mich in den Steinkreis und kehrte ohne Reue nach Hause zurück ...»
    Yayoi nimmt die Hand ihrer Freundin und legt sie auf ihren Bauch.
    Orito fühlt, wie sich die Ausbuchtungen bewegen. «Zwillinge», sagt sie, «eindeutig.»
    «In derselben Nacht, so heißt es», Yayois Stimme wird leise und bekommt einen humorvollen Klang, «kam Yōben der Seher ins Dorf. Sieben Tage und sieben Nächte lang hatte ein weißer Fuchs den heiligen Mann geführt, dessen Gloriole aus Sternenlicht ihm durch Berge und über Seen den Weg leuchtete. Die lange Reise endete, als der Fuchs auf das Dach eines bescheidenen Bauernhauses oberhalb von einem kleinen, namenlosen Dorf sprang. Yōben klopfte, und mein Vater fiel beim Anblick einer so hohen Persönlichkeit auf die Knie. Als der Seher von meiner Geburt hörte, rief er -», Yayoi verstellt die Stimme, «‹Die Fuchsohren des Kindes waren kein Fluch, sondern ein Geschenk der Göttin Kannon.› Indem er mich ausgesetzt hatte, hatte Vater Kannons Gnade verschmäht und ihren Zorn auf sich gezogen. Das kleine Mädchen musste um jeden Preis gerettet werden, bevor ein Unglück geschah ...»
    Auf dem Korridor wird eine Tür aufgeschoben und wieder geschlossen.
    «Als mein Vater und Yōben der Seher sich dem Platz der Spreu näherten», fährt Yayoi fort, «hörten sie all die Säuglinge nach ihren Müttern schreien. Sie hörten Wölfe größer als Pferde, die nach frischem Fleisch heulten. Mein Vater zitterte vor Angst, aber Yōben murmelte heilige Zaubersprüche, und so konnten sie unversehrt an den Geistern und den Wölfen vorbei in den Kreis der spitzen Steine treten, wo es ganz still war und so warm wie am ersten Frühlingstag. In der Mitte saß Kannon mit dem weißen Fuchs und stillte Yayoi, das Wundermädchen. Yōben und mein Vater sanken auf die Knie. Mit der Stimme sanfter Wellen auf dem See befahl die Göttin Yōben, mit mir durchs Kaiserreich zu ziehen und in ihrem

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