Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
Patienten zu richten, und greift zum Skalpell. Sein Gesicht ist konzentriert wie das eines Schwertkämpfers.
    Er schneidet in Gerritszoons Damm.
    Der Körper des Patienten verkrampft sich; Uzaemon läuft es eiskalt den Rücken herunter.
    Die vier Famuli starren gebannt auf das Skalpell.
    «Die Dicke der Fettschicht und der Muskeln variiert», erklärt Marinus, «aber die Blase ...»
    Aus dem Mund des geknebelten Gerritszoon dringt lautes Stöhnen, das wie ein Orgasmus klingt.
    Der Arzt verlängert den blutenden Schnitt: Gerritszoon stößt einen Schmerzensschrei aus.
    Uzaemon zwingt sich hinzusehen: Steinschnitte sind außerhalb Dejimas unbekannt, und er hat eingewilligt, Maenos Bericht an die Akademie mit seinen eigenen Beobachtungen zu vervollständigen.
    Gerritszoon schnaubt wie ein Bulle, seine Augen füllen sich mit Tränen, und er stöhnt vor Schmerz.
    Marinus taucht den linken Zeigefinger in Rapsöl und schiebt ihn bis zum ersten Glied in den Anus. «Darum soll der Patient vorher seinen Darm entleeren.» Es stinkt nach fauligem Fleisch und süßen Äpfeln. «Man lokalisiert den Stein durch die Ampulla recti ...», mit der rechten Hand führt Marinus die Pinzette in den heftig blutenden Schnitt ein, «... und drückt ihn vom Fundus aus auf den Schnitt zu.» Flüssiger Stuhl läuft aus dem Rektum über die Hand des Arztes. «Je weniger man mit der Pinzette herumstochert, desto besser ... Ein Einstich genügt und - ah! Fast hätte ich ihn gehabt ... und - aha! Ecco siamo!» Er holt den Stein heraus, zieht den Finger aus Gerritszoons Anus und wischt beides an seiner Schürze ab. Der Stein ist groß wie eine Eichel und gelb wie ein fauler Zahn. «Die Blutung muss gestillt werden, sonst stirbt der Patient an Blutverlust. Domburger, Corkonier, bitte zur Seite treten.» Marinus gießt ein anderes Öl über die Wunde, und Eelattu drückt eine getränkte Kompresse darauf. Der geknebelte Gerritszoon seufzt, als die unerträglichen Schmerzen mörderischen Schmerzen weichen.
    Dr. Maeno fragt: «Was ist das für ein Öl, Herr Doktor, wenn ich fragen darf?»
    «Ein Auszug aus Rinde und Blättern der Hamamelis japonica - die ich selbst so getauft habe. Eine einheimische Zaubernuss-Art, die die Gefahr eines Fiebers mindert: ein Trick, den mich vor vielen Leben eine ungebildete alte Frau gelehrt hat.»
    Auch Orito, erinnert sich Uzaemon, hat von einer alten Kräuterheilerin gelernt.
    Eelattu legt einen Verband an und befestigt ihn an Gerritszoons Taille. «Der Patient soll drei Tage liegen und in Maßen essen und trinken. Urin wird durch die Wunde in der Blasenwand austreten: Es ist mit Fieber und Schwellungen zu rechnen, aber in zwei bis drei Wochen sollte er seinen Urin wieder auf normalem Wege ausscheiden.»
    Marinus zieht Gerritszoon den Knebel aus dem Mund und sagt: «Ungefähr so lange, wie Sjako gebraucht hat, um sich von der Tracht Prügel zu erholen, die Sie ihm im vergangenen September verabreicht haben!»
    Gerritszoon öffnet mühsam die Augen. «Sie ... Sie ... Sie verdammter, verdammter ...»
    «Friede auf Erden ...», Marinus legt dem Patienten den Finger auf die mit Fieberbläschen übersäten Lippen, «... und den Menschen ein Wohlgefallen.»

    In Faktor van Cleefs Speisezimmer werden gleichzeitig sieben oder acht Gespräche auf Japanisch und Niederländisch geführt; das Tafelsilber klimpert am besten Geschirr, und obwohl es draußen noch hell ist, brennen die Kandelaber und beleuchten ein Schlachtfeld aus Ziegenknochen, Fischgerippen, Brotrinde, Krebsscheren, Hummerschalen, Puddingresten und herabgefallenen Blättern und Beeren aus dem Stechpalmenschmuck. Die Trennwände zwischen Speise- und Erkerzimmer wurden entfernt, und Uzaemons Blick reicht bis zur fernen Mündung des Meeres: Das Wasser ist schieferblau, und die Berge verschwinden halb hinter einem Schleier aus kaltem Nieselregen, der den Schnee der vergangenen Nacht in Matsch verwandelt.
    Van Cleefs malaiische Diener beenden ein Lied für Flöte und Violine und beginnen ein neues. Uzaemon kennt es vom Festessen im vergangenen Jahr. Die vereidigten Dolmetscher wissen, dass das niederländische Neujahr am 25. Dezember mit der Geburt Jesu Christi zusammenfällt, aber niemand spricht darüber, denn sonst könnte ein ehrgeiziger Spitzel sie eines Tages beschuldigen, den christlichen Glauben zu billigen. Weihnachten, ist Uzaemon aufgefallen, verändert die Niederländer auf kuriose Weise. Viele haben unerträgliches Heimweh und werden ausfallend, fröhlich,

Weitere Kostenlose Bücher