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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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heiligen Namen die Kranken zu heilen. Der Mystiker erhob Einspruch, er sei dieser Aufgabe nicht würdig, aber der Säugling, der, obwohl erst einen Tag alt, schon sprechen konnte, sagte: ‹Wir wollen den Verzweifelten Hoffnung geben und den Todgeweihten Leben einhauchen.› Was blieb ihm anderes übrig, als der Göttin zu gehorchen?» Yayoi seufzt und bewegt sich, damit ihr dicker Bauch es bequemer hat. «Jedes Mal, wenn Yōben der Seher und das wundersame Fuchsmädchen in einen neuen Ort kamen, erzählte er diese Geschichte, um die Leute anzulocken.»
    «Darf ich fragen», Orito liegt auf der Seite, «ob Yōben dein richtiger Vater war?»
    «Vielleicht sage ich nein, weil ich es nicht wahrhaben will ...»
    Der Nachtwind spielt mit dem klappernden Rauchfang wie ein blutiger Anfänger auf der Shakuhachi-Flöte.
    «... aber meine frühesten Erinnerungen sind Kranke, die mir die Hände auf die Ohren legen, während ich in ihre fauligen Münder atme, sterbende Augen, die ‹Heile mich› flehen, verkommene Herbergen und Yōben, der auf dem Marktplatz ‹Empfehlungsschreiben› von bedeutenden Familien verliest, die meine Heilkräfte bezeugen.»
    Orito denkt an ihre eigene Kindheit zwischen Büchern und Gelehrten.
    «Yōben träumte davon, in Palästen empfangen zu werden, und so verbrachten wir ein ganzes Jahr in Edo, aber er roch zu sehr nach Schausteller ... nach Hunger ... und ... ach, er stank einfach. Unsere Herbergen wurden in den sechs, sieben gemeinsamen Wanderjahren nie besser. Natürlich war ich an seinem ganzen Elend schuld, besonders, wenn er getrunken hatte. Eines Tages, man hatte uns wieder einmal aus dem Ort gejagt, kam ein anderer Scharlatan auf ihn zu und sagte, ein wundersames Fuchsmädchen würde den Verzweifelten und Sterbenden vielleicht das Geld aus der Tasche ziehen, nicht aber eine wundersame Fuchs frau. Das gab Yōben zu denken, und noch im selben Monat verkaufte er mich an ein Bordell in Osaka.» Yayoi betrachtet ihre Hand. «Ich versuche alles, mein Leben dort zu vergessen. Yōben sagte mir nicht einmal auf Wiedersehen. Vielleicht konnte er mir nicht ins Gesicht sehen. Vielleicht war er mein Vater.»
    Orito ist erstaunt, dass Yayoi überhaupt keinen Hass zu verspüren scheint.
    «Wenn die Schwestern zu dir sagen, dass es hier viel, viel besser ist als in einem Bordell, tun sie das nicht aus Gemeinheit. Na ja, eine oder zwei vielleicht, aber die anderen nicht. Auf jede erfolgreiche Geisha mit wohlhabenden Gönnern, die um ihre Gunst wetteifern, kommen fünfhundert zerkaute und wieder ausgespuckte Mädchen, die an Bordellkrankheiten sterben. Sicher ist das nur ein schwacher Trost für eine Frau von deinem Stand, und ich weiß, dass du ein besseres Leben verloren hast als wir anderen, aber das Haus der Schwestern ist nur dann die Hölle und ein Gefängnis, wenn du so denkst. Die Meister und Novizen sind gut zu uns. Die Gabenspende ist eine ungewöhnliche Pflicht, aber unterscheidet sie sich wirklich so sehr von der Pflicht, die jeder Mann von seiner Ehefrau verlangt? Auf jeden Fall werden nur wenige Ehefrauen dafür bezahlt - sehr wenige.»
    Yayois Argumente machen Orito Angst. «Aber zwanzig Jahre!»
    «Die Zeit vergeht. Schwester Hatsune verlässt uns in zwei Jahren. Sie erhält ein Ruhegeld und darf sich an dem Ort niederlassen, wo ihre Gaben leben. Viele ehemalige Schwestern schreiben an Äbtissin Izu, und ihre Briefe sind zärtlich und voller Dankbarkeit.»
    Schatten wiegen sich zwischen den niedrigen Dachsparren und erstarren.
    «Warum hat die letzte Jüngste Schwester sich erhängt?»
    «Die Trennung von ihrer Gabe hat ihr den Verstand genommen.»
    Orito lässt ein wenig Zeit verstreichen. «Und du kannst das ertragen?»
    «Natürlich tut es weh. Aber sie sterben ja nicht. Sie sind in der Unteren Welt, umsorgt und gut genährt, und sie denken an uns. Wenn wir möchten, dürfen wir sie nach dem Abstieg sogar besuchen. Es ist ein ... sonderbares Leben, das gebe ich zu, aber wenn du dir das Vertrauen von Meister Genmu und der Äbtissin erwirbst, muss es kein entbehrungsreiches oder vergeudetes Leben sein ...»
    An dem Tag ., an dem ich das glaube, denkt Orito, gehöre ich dem Shiranui-Schrein.
    «... und du hast mich», sagt Yayoi, «was immer meine Freundschaft wert sein mag.»

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    XVIII

    Das Behandlungszimmer auf Dejima

    Eine Stunde vor dem Abendessen am neunundzwanzigsten Tag des elften Monats
     
    «Lithotomie: aus dem Griechischen lithos für Stein und tomos für Schnitt.»

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