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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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aus. «Auf die Gesundheit unseres weisen, geliebten Statthalters.» Auch Yoshio hat einen Sohn im dritten Rang, der sich große Hoffnungen auf einen der bald frei werdenden Posten macht. Zu den Niederländern sagt er: «Auf unsere Herrscher.»
    Wer in der Zunft aufsteigen will, denkt Uzaemon, muss dieses Spiel beherrschen.
    Jacob de Zoet schwenkt seinen Wein. «Auf die Menschen, die wir lieben, ob hier oder in der Ferne.»
    Der Niederländer sieht Uzaemon in die Augen, und beide senken den Blick, während die anderen den Trinkspruch wiederholen. Der Dolmetscher spielt immer noch verdrossen an seinem Serviettenring, als Goto sich räuspert. «Ogawa-san?»
    Uzaemon blickt auf: Alle Blicke sind auf ihn gerichtet.
    «Verzeihung, meine Herren, der Wein hat mir die Sprache geraubt.»
    Koboldhaftes Gelächter schwappt durch den Raum. Die Gesichter der Gäste werden riesengroß und weichen zurück. Lippenbewegungen und verzerrte Worte stimmen nicht überein. Sterbe ich jetzt?, denkt Uzaemon, während ihm die Sinne schwinden.

    Die Stufen der Higashizaka-Straße sind glatt vom gefrorenen Schneematsch und übersät mit Knochen, Lumpen, vermoderten Blättern und Exkrementen. Uzaemon und der krummbeinige Yohei gehen an einer Kastanienbude vorbei. Der Geruch versetzt seinen Magen erneut in Aufruhr. Ein Bettler pisst an eine Hauswand, ohne die herannahenden Samurai zu bemerken. Dürre Hunde, Milane und Krähen zanken sich um die karge Beute.
    Aus einem Hauseingang dringen duftende Rauchschwaden und ein Totenmantra.
    Shuzai erwartet mich zur Schwertübung , fällt Uzaemon ein ...
    An der Kreuzung verkauft ein hochschwangeres Mädchen Kerzen aus Schweinefett.
    ... aber wenn ich an einem Tag gleich zweimal ohnmächtig werde, führt das nur zu lästigem Gerede.
    Uzaemon bittet Yohei, zehn Kerzen zu kaufen: Beide Augen des Mädchens sind getrübt.
    Die Kerzenverkäuferin bedankt sich bei ihrem Kunden. Herr und Diener setzen ihren Aufstieg fort.
    An einem Fenster schreit ein Mann: «Ich verfluche den Tag, an dem ich dich geheiratet habe!»
    «Samurai-sama?», ruft eine Wahrsagerin ohne Lippen aus einer halb offenen Tür. «In der Oberen Welt ist jemand, den Ihr befreien müsst, Samurai-sama.»
    Uzaemon geht weiter, verärgert über diese Dreistigkeit.
    «Herr», sagt Yohei, «wenn Euch wieder unwohl ist, könnte ich ...»
    «Benimm dich nicht wie ein Weib: Der ausländische Wein ist mir nicht bekommen.»
    Der ausländische Wein , denkt Uzaemon, und die Operation.
    «Mein Vater», sagt er, «würde sich bloß aufregen, wenn er von meinem kleinen Schwächeanfall erfährt.»
    «Von mir erfährt er nichts, Herr.»
    Sie passieren das Wachtor: Der Sohn des Wächters verbeugt sich vor einem der bedeutendsten Bewohner des Viertels. Uzaemon nickt ihm kurz zu und denkt: Gleich zu Hause. Diese Aussicht ist nur ein schwacher Trost.
     
    Als Uzaemon darauf wartet, dass das Tor geöffnet wird, hört er die Stimme einer alten Frau.
    «Wäre Ogawa-sama so großzügig, mir ein wenig seiner Zeit zu opfern?»
    Eine gebeugte Bergbewohnerin steigt aus dem Dickicht beim Wasserlauf.
    «Was erdreistest du dich», Yohei versperrt ihr den Weg, «meinen Herren anzusprechen?»
    Der Diener Kiyoshichi öffnet von innen das Tor zum Haus der Ogawas. Er sieht die alte Frau und sagt: «Herr, die schwachsinnige Alte hat vorhin an die Seitentür geklopft und verlangt, mit Ogawa dem Jüngeren zu sprechen. Ich habe die verrückte alte Krähe fortgeschickt, aber wie Ihr seht ...»
    Ihr wettergegerbtes Gesicht, eingerahmt von Hut und Strohmantel, hat nichts von der Verschlagenheit einer Bettlerin. «Wir haben eine gemeinsame Freundin, Ogawa-sama.»
    «Schluss jetzt, Mütterchen.» Kiyoshichi fasst sie am Arm. «Zeit, nach Hause zu gehen.»
    Er sieht Uzaemon an, der lautlos «Sachte!» flüstert.
    «Zum Wachtor geht’s da lang.»
    «Bis nach Kurozane sind es drei Tage, junger Mann, und meine alten Füße ...»
    «Je eher du die Heimreise antrittst, desto besser, meinst du nicht?»
    Uzaemon tritt durchs Tor und geht durch den dunklen Steingarten, in dem nur kranke Sträucher und Flechten wachsen. Saiji, der hagere, vogelgesichtige Diener seines Vaters, öffnet von innen die Schiebetür zum Haupthaus, einen Wimpernschlag bevor Yohei sie von außen öffnen kann. «Willkommen zu Hause, Herr.» Die Diener buhlen bereits um ihren Rang, in Vorausschau auf den Tag, an dem ihr Herr nicht mehr Ogawa Mimasaku, sondern Ogawa Uzaemon heißen wird. «Der alte Herr schläft in seinem

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