Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
nimmt die frisch gewickelte, schläfrige Shinobu und drückt sie Suzaku an die Brust. «Hōfu ist die Burgstadt des Lehens Suō, ein Lehen hinter Nagato. Es sind nur fünf bis sechs Tagesreisen, wenn ruhige See herrscht ...»
Yayoi starrt durch Binyō hindurch ins Nichts. Orito kann nur vermuten, woran sie denkt: vielleicht an Kaho, ihre erste Tochter, die im vergangenen Jahr zu Kerzendrehern ins Lehen Harima geschickt wurde, oder an künftige Gaben, die sie bis zu ihrem Abstieg in achtzehn oder neunzehn Jahren hergeben muss. Vielleicht hofft sie auch nur, dass die Ammen in Kurozane gute, saubere Milch haben.
Darbringungen sind wie der Tod eines Kindes , denkt Orito, aber die Mütter können nicht einmal trauern.
Der dritte Schlag der Glocke von Amanohashira läutet das Ende der Abschiedsszene ein.
Suzaku träufelt ein paar Tropfen aus dem Glaskolben zwischen Shinobus Lippen. «Süße Träume», flüstert er, «kleine Gabe.»
Ihr Bruder Binyō, der noch in Yayois Armen liegt, seufzt, macht ein Bäuerchen und pupst. Seine Darbietung erntet nicht den üblichen Applaus. Die Stimmung ist gedrückt und melancholisch. «Es ist so weit, Schwester Yayoi», sagt die Äbtissin. «Ich weiß, du wirst tapfer sein.»
Yayoi riecht ein letztes Mal an seinem zarten Hals. «Darf ich Binyō das Schlaf geben?»
Suzaku nickt und reicht ihr den Kolben.
Yayoi drückt die spitze Öffnung an Binyōs Mund; seine winzige Zunge leckt.
«Woraus», fragt Orito, «besteht Meister Suzakus Schlaf?»
«Du bist Hebamme.» Suzaku lächelt. «Ich bin Apotheker.»
Shinobu ist schon eingeschlafen. Binyō fallen langsam die Augen zu ...
Orito kann nur mutmaßen: Opiate? Kobralilie? Eisenhut?
«Hier ist etwas für die tapfere Schwester Yayoi.» Suzaku gießt eine schlammige Flüssigkeit in ein fingerhutgroßes Steinbecherchen. «Ich nenne es ‹Innere Kraft›: Es hat dir auch bei deiner letzten Darbringung geholfen.» Er hält den Becher an Yayois Lippen, und Orito muss sich beherrschen, ihm das Gefäß nicht aus der Hand zu schlagen. Als Yayoi schluckt, nimmt Suzaku ihr den Säugling ab.
Die ihrer Kinder beraubte Mutter murmelt «Aber ...» und starrt den Apotheker aus trüben Augen an.
Orito stützt den Kopf ihrer betäubten Freundin und legt sie hin.
Äbtissin Izu und Meister Suzaku verlassen mit den gestohlenen Kindern die Zelle.
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XXIV
Ogawa Mimasakus Zimmer im Haus der Ogawas in Nagasaki
Morgendämmerung am einundzwanzigsten Tag des ersten Monats
Uzaemon kniet am Bett seines Vaters. «Du siehst heute ein wenig ... heiterer aus, Vater.»
«Überlass die blumigen Schwindeleien den Frauen: Das Lügen liegt in ihrer Natur.»
«Wirklich, Vater, als ich hereinkam, fiel mir sofort die frische Farbe in deinem Gesicht ...»
«Mein Gesicht ist bleicher als Marinus’ Skelett im niederländischen Krankenhaus.»
Saiji, der spindeldürre Diener seines Vaters, bemüht sich, das Feuer neu zu entfachen.
«Du unternimmst also eine Pilgerreise nach Kashima, um für deinen kranken Vater zu beten - allein, mitten im Winter und ohne Diener sofern man bei den Ochsen, die sich bei den Ogawas durchfressen, von ‹dienen› sprechen kann. Nagasaki wird von deiner Frömmigkeit zutiefst beeindruckt sein.»
Nagasaki wird zutiefst empört sein , denkt Uzaemon, falls die Wahrheit je ans Licht kommt.
In der Eingangshalle schrubben harte Borsten über den Stein.
«Ich unternehme diese Pilgerreise nicht, um Beifall zu ernten, Vater.»
«‹Wahre Gelehrte›, hast du mich einmal belehrt, ‹verachten Aberglaube und Magie.›»
«Zurzeit ziehe ich es vor, allem gegenüber aufgeschlossen zu sein, Vater.»
«Ach? Dann bin ich ...» Ein kratzender Husten hindert ihn weiterzusprechen. Uzaemon denkt an einen sterbenden Fisch auf einem Bootssteg und überlegt, ob er seinem Vater helfen soll, sich aufzusetzen. Aber dazu müsste er ihn berühren, was bei Vater und Sohn von ihrem Rang unvorstellbar wäre. Der Diener tritt ans Bett, um zu helfen, aber der Husten legt sich, und Ogawa der Ältere stößt ihn weg. «Dann bin ich wohl einer von deinen ‹empirischen Versuchen›? Hast du vor, in der Akademie einen Vortrag über die Wirksamkeit der Kashima-Kur zu halten?»
«Als Dolmetscher Nishi der Ältere krank war, pilgerte sein Sohn nach Kashima und fastete drei Tage: Bei seiner Rückkehr war sein Vater nicht nur auf wundersame Weise genesen, er kam ihm sogar den weiten Weg bis nach Magome entgegen.»
«Um dann bei der Genesungsfeier an einer
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