Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Straßengraben, sondern in Herbergen und Tempelschlafsälen.»
«Ein Ogawa spricht nicht davon, wie ein Vagabund zu leben, nicht einmal im Scherz.»
«Warum gehst du nicht hinein, Mutter? Du wirst dich schrecklich erkälten.»
«Weil es die Pflicht jeder anständigen Frau ist, ihren Sohn oder Ehemann zum Tor zu begleiten, selbst wenn es drinnen noch so behaglich ist.» Sie blickt finster zum Haupthaus. «Ich wüsste zu gerne, worüber sich diese Närrin von Schwiegertochter schon wieder beklagt hat.»
Utako starrt die Regentropfen auf den Kamelienknospen an.
«Okinu hat mir eine gute Reise gewünscht, so wie du.»
«Nun, offenbar herrschen in Shimonoseki andere Sitten.»
«Sie ist weit fort von zu Hause, und sie hat ein schwieriges Jahr hinter sich.»
«Auch ich habe in die Ferne geheiratet, und wenn du damit andeuten willst, dass ich eine dieser ‹Schwierigkeiten› bin, kann ich dir versichern, dass das Mädchen es ausgesprochen leicht hat! Meine Schwiegermutter war eine wahre Höllenhexe, nicht wahr, Utako?»
Utako verbeugt sich zaghaft und flüstert: «Ja, Herrin.»
«Niemand hat dich ‹Schwierigkeit› genannt.» Uzaemon legt die Hand auf den Riegel.
«Okinu ...», seine Mutter legt ihre Hand auf seine, «... ist eine Enttäuschung ...»
«Mutter, bitte sei nett zu ihr, mir zuliebe.»
«... eine Enttäuschung für uns alle. Ich war nie mit dem Mädchen einverstanden, nicht wahr, Utako?»
Utako verbeugt sich zaghaft und flüstert: «Nein, Herrin.»
«Aber du und dein Vater, ihr hattet euch fest für sie entschieden: Was hätten meine Bedenken da ausrichten können?»
Es ist haarsträubend, wie du die Wahrheit verdrehst , denkt Uzaemon, selbst für deine Verhältnisse.
«Aber eine Pilgerreise», sagt sie, «ist eine gute Gelegenheit, um über die eigenen Fehlentscheidungen nachzudenken.»
Uzaemon sieht eine mondgraue Katze an der Mauer entlanghuschen.
«Eine Heirat ist ein Geschäft ... Was gibt es denn?»
Die mondgraue Katze verschwindet wie ein Phantom im Nebel.
«Du sagtest, eine Heirat sei ein Geschäft, Mutter.»
«Jawohl, ein Geschäft. Und wenn man Ware kauft und anschließend feststellt, dass sie beschädigt ist, muss der Händler sie zurücknehmen, den Kaufbetrag erstatten und hoffen, dass die Angelegenheit damit erledigt ist. Ich habe der Familie Ogawa drei Jungen und zwei Mädchen geschenkt, und obwohl bis auf die liebe Hisanobu alle im Kindesalter gestorben sind, kann mir niemand vorwerfen, ich sei mangelhaft. Ich mache Okinu für ihren schwächlichen Mutterleib keine Vorhaltungen - andere würden das tun, aber ich bin gerecht. Das ändert jedoch nichts daran, dass man uns schlechte Ware untergeschoben hat. Könnte uns jemand übelnehmen, wenn wir sie zurückgeben? Im Gegenteil, viele - die Ahnen des Ogawa-Clans - nähmen es uns übel, wenn wir sie nicht nach Hause zurückschickten.»
Uzaemon weicht vor dem allzu nahen Gesicht seiner Mutter zurück.
Ein Milan schießt im Nieselregen herab. Uzaemon hört seine Federn rascheln. «Viele Frauen haben mehr als zwei Fehlgeburten.»
«Ein Bauer, der guten Samen in unfruchtbare Erde pflanzt, ist ein unbesonnener Bauer.»
Uzaemon hebt den Riegel, auf dem ihre Hand immer noch liegt, und macht die Tür auf.
«Ich sage all das nicht aus Bosheit», sie lächelt, «sondern aus Pflichtgefühl ...»
Jetzt kommt sie wieder einmal , denkt Uzaemon, die Geschichte meiner Adoption.
«... denn ich gab deinem Vater damals den Rat, dich - und nicht einen reicheren, vornehmeren Schüler - als seinen Sohn und Erben anzunehmen. Darum fühle ich mich ganz besonders verpflichtet, den Fortbestand der Ogawas zu sichern.»
Regen tropft auf Uzaemons Nacken und rinnt zwischen seinen Schulterblättern hindurch. «Auf Wiedersehen.»
Als Uzaemon dreizehn war, halb so alt wie jetzt, unternahm er mit seinem ersten Meister Kanamaru Motoji, oberster Niederländischgelehrter am Hofe des Fürsten von Tosa, die zweiwöchige Reise von Shikoku nach Nagasaki. Nachdem ihn Ogawa Mimasaku als Fünfzehnjährigen adoptiert hatte, besuchte er mit seinem neuen Vater Gelehrte bis ins ferne Kumamoto, doch seit er vor vier Jahren zum Dolmetscher dritten Ranges ernannt wurde, hat Uzaemon Nagasaki nur noch selten verlassen. Die Reisen seiner Knabenzeit waren voll leuchtender Verheißungen, aber an diesem Morgen wird der Dolmetscher - wenn ich mich überhaupt noch so nennen darf, denkt Uzaemon - von düsteren Gefühlen heimgesucht. Gänse flüchten schnatternd vor ihrem Hirten,
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