Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
ein bibbernder Bettler hockt am rauschenden Fluss und scheißt, und Nebel und Rauch verhüllen jeden Spion oder Mörder, der unter einem tief gezogenen Hut oder hinter dem Fenstergitter einer Sänfte lauert. Ein Spitzel kann zwischen den vielen Menschen leicht untertauchen , denkt Uzaemon, ich aber bin für jedermann sichtbar. Er überquert die Brücken über den Nakashima, deren Namen er sich oft laut aufsagt, wenn er nachts nicht einschlafen kann: Die stolze Tokiwabashi-Brücke, die Fukurobashi-Brücke bei den Lagerhäusern der Tuchhändler, die Meganebashi, deren Doppelbögen an sonnigen Tagen runde Augengläser bilden, die schlanke Uoichibashi, die nüchterne Higashishinbashi, flussaufwärts hinter den Richtplätzen die Imoharabashi-Brücke, die Furumachibashi, so alt und zerbrechlich, wie ihr Name verrät, die schwankende Amigasabashi und zum Schluss die höchste von allen, die Ōidebashi. Uzaemon bleibt an einer halb vom Nebel verborgenen Treppe stehen und denkt an den Frühlingstag, als er zum ersten Mal nach Nagasaki kam.
Eine Piepsstimme wispert: «Verzeihung, O-junrei-sama ...»
Es dauert einen Augenblick, bis Uzaemon begreift, dass er der angesprochene Pilger ist. Er dreht sich um ...
... und ein spatzenhafter Junge mit leeren Augenhöhlen hält bittend die Hände auf.
Eine Stimme warnt Uzaemon: Er bettelt um Kleingeld , und der Pilger geht weiter.
Und du , rügt ihn eine andere Stimme, bettelst um Glück.
Uzaemon kehrt um, aber der Junge ohne Augen ist verschwunden.
Ich bin der Übersetzer von Adam Smith , sagt er sich. Ich glaube nicht an Omen.
Kurz darauf kommt er zum Magome-Wachtor. Er zieht sich die Kapuze ins Gesicht, aber ein Wachposten erkennt ihn als Samurai und winkt ihn mit einer Verbeugung durch.
Kleine, verfallene Handwerkerbehausungen drängen sich am Straßenrand.
In unbeleuchteten Zimmern machen gepachtete Webstühle Rat-tatta-clack-ah, rat-tatta-clack-ah .
Langbeinige Hunde und hungrige Kinder sehen ihn teilnahmslos an.
Schlamm spritzt von den Rädern eines rumpelnden Viehfutterwagens - vorne zieht ein Ochse, ein Bauer und sein Sohn schieben von hinten nach. Uzaemon tritt unter einen knorrigen Ginkgobaum am Straßenrand und blickt hinunter zum Hafen, aber Dejima ist in dichten Nebel gehüllt. Ich stehe zwischen zwei Welten. Er lässt die Dolmetscherzunft hinter sich, die Verachtung der Inspektoren und der meisten Niederländer, die Lügen und Betrügereien. Vor mir liegt ein ungewisses Leben an einem ungewissen Ort, mit einer Frau, die mich vielleicht gar nicht zum Mann haben will. Über ihm im Baumwipfel pöbelt eine aufgebrachte Horde Krähen. Der Wagen zieht vorbei, und der Bauer verbeugt sich so tief, dass er fast das Gleichgewicht verliert. Der falsche Pilger zieht die Umwicklungen an seinen Schienbeinen zurecht, bindet sich die Schuhe neu und setzt seinen Weg fort. Er darf zu seiner Verabredung mit Shuzai nicht zu spät kommen.
Der Fröhliche Phönix steht kurz vor Markierungsstein 12 an einer Straßenbiegung zwischen einer schmalen Furt und einem Steinbruch. Uzaemon sieht sich nach Shuzai um, aber im Gastraum sitzen nur gewöhnliche Reisende, die Schutz vor dem kalten Nieselregen suchen: Sänften- und Gepäckträger, Mauleseltreiber, Bettelmönche, ein Prostituiertentrio, ein Mann mit einem wahrsagenden Affen und ein bärtiger vermummter Kaufmann, der sich etwas abseits von seiner Dienerschar hält. Es stinkt nach nassen Menschen, dampfendem Reis und Schweineschmalz, aber es ist warm und trocken. Uzaemon bestellt Walnussteigtaschen, betritt den Gastraum und hält weiter bang nach Shuzai und den fünf Schwertkämpfern Ausschau. Er sorgt sich nicht um den hohen Geldbetrag, den er seinem Freund gegeben hat, damit er die Söldner bezahlen kann: Wäre Shuzai nicht der ehrliche Mensch, als den Uzaemon ihn kennt, wäre der Dolmetscher schon vor Tagen verhaftet worden. Vielmehr befürchtet er, dass Shuzais scharfsichtige Gläubiger seinen Plan, aus Nagasaki zu fliehen, gewittert und ihm eine Falle gestellt haben.
Jemand klopft an den Holzbalken: Eine der Wirtstöchter bringt das Essen.
«Ist schon die Stunde des Pferdes?», fragt er sie.
«Es ist weit nach Mittag, Samurai-sama, ich glaube, ja ...»
Fünf Soldaten des Shōguns betreten den Gastraum, und die Gespräche verstummen.
Die Soldaten sehen sich unter den nervösen Gästen um.
Der Hauptmann mustert Uzaemon: Uzaemon senkt den Blick. Mach kein schuldbewusstes Gesicht , denkt er. Du bist ein Pilger auf dem Weg nach
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