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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Sommer dunkel, feucht und stickig: Kuschelig, nennen es die Matrosen. Auf schlecht geführten Schiffen sind verhasste Offiziere gut beraten, sich nicht allzu weit von den jedermann zugänglichen Bereichen wegzubewegen, aber John Penhaligon kann unbesorgt sein. Die Männer von der Backbordwache, ungefähr einhundertzehn Leute, machen Schnitzarbeiten oder bessern im fahlen Licht der Luftschächte ihre Kleidung aus, nörgeln, rasieren sich oder liegen zwischen den Seekisten zu einem Nickerchen zusammengerollt, denn die Hängematten werden nur nachts aufgespannt. Noch bevor Penhaligon unten ist, erkennen sie seine Schnallenschuhe, und jemand ruft: «Captain auf Deck, Jungs!» Die vorderen Matrosen nehmen Haltung an, und der Kapitän stellt zufrieden fest, dass sie ihren Ärger über die Störung wenigstens nicht offen zeigen. Er lässt sich die Schmerzen in seinem Fuß nicht anmerken. «Ich bin auf dem Weg zum Orlopdeck, Männer ...»
    «Brauchen Sie eine Laterne oder Hilfe, Sir?», fragt ein Seemann.
    «Nicht nötig. Ich finde mich auf der Pboebus mit verbundenen Augen zurecht.»
    Er steigt hinab zum Orlopdeck. Es stinkt nach Kieljauche, aber nicht nach verfaulten Leichen, wie er es einmal bei der Inspektion eines gekaperten französischen Schiffes erlebt hat. Wasser klatscht, die See stampft, die Pumpen rattern und glucksen. Penhaligon stöhnt erleichtert auf, als er das Deck erreicht, und tastet sich durch den schmalen Gang. Er erkennt das Pulvermagazin, das Käselager, das Rumlager mit dem schweren Schloss, die Kajüte von Mr. Woods, dem abgehärmten Lehrer der Kinder, das Kabelgatt, die Schiffsapotheke, und schließlich gelangt er zu einer Kajüte, die nicht größer ist als seine Toilette. Bronzefarbenes Licht dringt durch die Tür, und dahinter werden Kisten geschoben. «Ich bin es, Mr. Nash, der Kapitän.»
    «Captain», ertönt eine raue Stimme mit breitem südwestenglischem Akzent. Der Schiffsarzt öffnet die Tür. «So eine Überraschung.» Sein Gesicht, das im fahlen Licht der Lampe dem eines zähnefletschenden Maulwurfs ähnelt, wirkt allerdings keineswegs überrascht.
    «Mr. Rafferty sagte, ich würde Sie hier finden.»
    «Ja, ich wollte Sulfid und Blei holen.» Er legt eine gefaltete Decke auf eine der Seekisten. «Bitte sehr, entlasten Sie Ihre Füße. Die Gicht hat wieder zugeschlagen, Sir?»
    Der große Mann füllt die winzige Kajüte aus. «Ist das so offensichtlich?»
    «Berufsinstinkt, Sir ... Darf ich mir die Stelle ansehen?»
    Der Kapitän zieht unbeholfen Schuh und Strumpf aus und legt den Fuß auf die Truhe. Nash, dessen Schürze steif ist von geronnenem Blut, hält die Lampe an den Fuß und betrachtet stirnrunzelnd die bräunlichen Schwellungen. «Ein böser Tophus am Metatarsus ... ist bereits Sekret ausgetreten?»
    «Noch nicht, aber der Fuß sieht fast so schlimm aus wie vor einem Jahr.»
    Nash drückt auf die Schwellung, und Penhaligon zuckt vor Schmerz zusammen.
    «Unser Einsatz in Nagasaki lässt nicht zu, dass ich dienstuntauglich bin.»
    Nash putzt sich die Brille an der schmutzigen Manschette. «Ich verordne Dover’sches Pulver: In Bengalen hat es Ihre Genesung beschleunigt, vielleicht kann es den Anfall diesmal hinauszögern. Außerdem muss ich Ihnen sechs Unzen Blut abzapfen, um die Reibung an den Arterienwänden zu verringern.»
    «Dann wollen wir keine Zeit verlieren.» Penhaligon zieht den Rock aus und rollt den Hemdsärmel auf, während Nash aus verschiedenen Arzneifläschchen drei Flüssigkeiten abgießt. Niemand kann behaupten, der Chirurg ziere die Offiziersmesse mit wissenschaftlicher Begeisterung und gelehrten Reden wie die akademisch geschulten Ärzte, die man zuweilen bei der Marine antrifft - dafür kann der verlässliche Mann aus Devon bei Kampfhandlungen ein Körperglied pro Minute amputieren, er zieht mit ruhiger Hand Zähne, manipuliert seine Rechnungen nie über ein vertretbares Maß hinaus und plaudert bei der Mannschaft nicht über die Leiden der Offiziere. «Helfen Sie mir auf die Sprünge, Mr. Nash, woraus besteht das Dover’-sche Pulver?»
    «Es ist eine Abart des Ipecacuanha-Pulvers, Sir, und enthält Opium, Brechwurzel, Salpeter, Weinstein und Süßholz.» Er misst einen Spatel des fahlen Pulvers ab. «Bei den Matrosen würde ich noch Rizinus hinzugeben - Mediziner nennen es auch Castoröl -, damit sie die Behandlung auch richtig spüren. Aber den Offizieren erspare ich solche Tricks.» Das Schiff stampft, und das Gebälk knarrt wie eine Scheune im

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