Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
stinkenden Kanal entlang und in die Kirche von Domburg. Geertje stellt eine gebratene Gans auf den Altar. Der Fackeljunge, er hat asiatische Augen und kupferrotes Haar, sagt: «Neigen will ich zu einem Spruche mein Ohr, Papa, mein Rätsel eröffnen bei der Laute.» Jacob erschrickt. Ein unehelicher Sohn? Er dreht sich um zu Geertje, doch da steht die griesgrämige Vermieterin aus seiner Unterkunft in Batavia. «Sie kennen die Mutter gar nicht, richtig?» Unico Vorstenbosch findet das alles ungemein amüsant und rupft Fleisch aus der halb verspeisten Gans. Das Federtier hebt den knusprig gebratenen Kopf und spricht: «Sie sollen zergehen wie Wasser, die verrinnen! Legt er seine Pfeile an, so seien sie wie abgestumpft.» Die Gans fliegt in einen Bambushain, durch ein schräges Gitter aus hellem und dunklem Schwarz, und Jacob fliegt mit ihr, bis sie an eine Lichtung kommen, wo der Kopf Johannes’ des Täufers ihnen von einer Platte aus Delfter Porzellan finster entgegenblickt. «Achtzehn Jahre in Ostasien und nicht mehr vorzuweisen als ein Mischlingsbalg!»
Achtzehn Jahre? Jacob staunt über die Zahl. Achtzehn ...
Aber die Shenandoah , denkt er, ist vor nicht einmal einem Jahr in See gestochen ...
Die Leine zur Unterwelt wird gekappt, und er erwacht neben Orito.
Gelobet sei Gott, der Barmherzige im Himmel. Der Schlaftrunkene ist im Großen Haus ...
... wo alles genau so ist, wie es scheint.
Oritos Haar ist von der Liebesnacht zerzaust.
Der Staub schimmert golden im Dämmerlicht, ein Insekt wetzt seine Skalpelle.
«Ich gehöre dir, Geliebte», flüstert Jacob und küsst ihre Brandnarbe ...
Oritos schmale Hände, ihre schönen Hände, rühren sich und legen sich auf seine Brustwarzen ...
So viel gelitten , denkt Jacob, aber jetzt bist du hier, und ich werde dich heilen.
... legen sich auf seine Brustwarzen, kreisen um seinen Nabel, massieren seine Lenden und -
«Lass sie sein gleich der Schnecke ...» Orito öffnet die blutunterlaufenen verdrehten Augen.
Jacob will aufwachen, aber die Drahtschlinge um seinen Hals zieht sich zu.
«... die zerschmelzend dahingeht», spricht der Leichnam, «gleich der Fehlgeburt ...»
Schnecken bedecken den Leib des Niederländers - das Bett, das Zimmer, Dejima, überall Schnecken ...
«... gleich der Fehlgeburt eines Weibes, welche die Sonne nie erblickt hat.»
Jacob sitzt hellwach im Bett. Sein Puls rast. Ich bin im Haus der Glyzinien, und ich habe vergangene Nacht mit einer Prostituierten geschlafen. Sie liegt hier neben ihm, schnarcht leise. Die Luft ist stickig, und es stinkt nach Sex, Tabak, verschmutztem Bettzeug und Kohldünsten aus dem Nachttopf. Das reine Licht der Schöpfung schimmert durch die Papierfenster. Aus einem anderen Zimmer sind Kichern und Liebesgeräusche zu hören. Voller Schuldgefühle denkt er an Orito und an Uzaemon und schließt die Augen, aber so sieht er sie nur umso deutlicher: Orito gefangen, geschändet und ihrer Leibesfrucht beraubt, Uzaemon grausam zerstückelt. Deinetwegen , denkt Jacob und öffnet die Augen. Aber Gedanken haben keine Augen und Ohren, die man verschließen kann, und Jacob erinnert sich an den Tag, als Dolmetscher Kobayashi bekanntgab, dass Ogawa Uzaemon auf einer Pilgerreise in die Stadt Kashima von Gebirgsbanditen erschlagen worden sei. Fürstabt Enomoto habe die elf Verbrecher, die für die Gräueltat verantwortlich waren, gestellt und zu Tode foltern lassen, aber auch Rache, hatte Kobayashi gesagt, könne die Toten nicht wieder lebendig machen. Faktor van Cleef hatte Ogawa dem Älteren im Namen der Kompanie sein Beileid übermittelt, aber der Dolmetscher kehrte nicht nach Dejima zurück, und niemand war überrascht, als er kurz darauf starb. De Zoets leiser Verdacht, Enomoto könnte Ogawa Uzaemon ermordet haben, erhielt einige Wochen später neue Nahrung, als Goto Shinpachi berichtete, das Feuer, das in der vergangenen Nacht am Osthang gelodert habe, sei in der Bibliothek im Hause Ogawa ausgebrochen. Noch am selben Abend holte Jacob die Hartriegelschatulle unter den Holzdielen hervor und machte sich an die größte geistige Herausforderung seines Lebens. Die Schrift war nicht lang - der Titel und die zwölf Abschnitte zählten kaum mehr als dreihundert Zeichen -, aber Jacob musste sich Vokabular und Grammatik ganz allein aneignen. Kein Dolmetscher würde das Risiko eingehen, einem Ausländer heimlich Japanisch beizubringen, auch wenn Goto Shinpachi ihm die eine oder andere Frage bezüglich einzelner Wörter
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