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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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dann ist von seinem Bein nicht mehr viel übrig, Sir.»
    «Fahren Sie fort, Mr. Waldron.» Penhaligon hält sich an einem oberhalb laufenden Tau fest und setzt, in Gedanken an seine eigene Zeit als Pulveräffchen, seinen Gang am Schanzkleid fort. Mit seinen eins dreiundsiebzig ist er deutlich größer als der durchschnittliche Matrose, und er muss achtgeben, dass er sich in den niedrigen Decks nicht skalpiert. Er bedauert, dass er nicht über das nötige Privatvermögen oder Prisengeld verfügt, um Schwarzpulver für Schießübungen zu kaufen. Kapitäne, die mehr als ein Drittel ihres Kontingents zu diesem Zweck verwenden, gelten bei den Seelords als leichtsinnig. Sechs Hannoveraner, die er vor Saint Helena von einem Walfänger geholt hat, geben sich alle Mühe, bei dem stürmischen Wetter die überzähligen Hängematten zu waschen, auszuwringen und zum Trocknen aufzuhängen. Sie rufen im Chor: «Kepptn!», und setzen schweigend ihre Arbeit fort. Ein Stück weiter lässt Leutnant Wren ein paar Matrosen das Deck mit heißem Essig und Scheuersteinen schrubben. Das Oberdeck ist zur Tarnung geschwärzt, aber die übrigen Decks müssen vor Schimmel und schlechten Gerüchen geschützt werden. Wren schlägt einen Matrosen mit dem Rattanstock und brüllt: «Nicht streicheln, schrubben, du Mädchen!» Er tut so, als würde er den Kapitän erst jetzt bemerken, und grüßt. «Guten Tag, Sir!»
    «Guten Tag, Mr. Wren. Alles bestens?»
    «Könnte nicht besser sein, Sir!», antwortet der schneidige, aber hässliche Zweite Leutnant.
    Penhaligon kommt zur abgeteilten Kombüse und späht durch einen Spalt im Segeltuch in den verrußten, dampfenden Raum. Die Stewards helfen dem Koch und dem Küchenjungen beim Schnippeln, schüren das Feuer und passen auf, dass die Töpfe nicht umkippen. Der Koch legt gepökeltes Schweinefleisch - Donnerstag ist Schweinefleischtag - in die brodelnde Brühe. Dann kommen Chinakohl, Yams und Reis hinzu, um den Eintopf anzudicken. Söhne des Landadels würden bei der salz- und stärkehaltigen Kost vielleicht die Nase rümpfen, aber Matrosen essen und trinken mehr als Landeier. Jonas Jones, Penhaligons Leibkoch, klatscht mehrmals in die Hände, bis die Männer in der Kombüse ihm Gehör schenken. «Die Einsätze sind gemacht, Leute.»
    «Das heißt», ruft Chigwin, «das Spiel ist eröffnet!»
    Chigwin und Jones greifen sich jeder ein Huhn und schütteln es, bis die Tiere in Panik geraten.
    Rund ein Dutzend Männer rufen im Chor: «Und eins, und zwei, und drei!»
    Chigwin und Jones schneiden den Hühnern mit Gartenscheren die Köpfe ab und stellen sie dann auf die Holzplanken. Die Männer feuern die blutspritzenden, kopflosen Tiere an, die flügelschlagend durch die Kombüse torkeln. Dreißig Sekunden später, Jones’ umgekipptes Huhn zuckt noch mit den Füßen, erklärt der Schiedsrichter Chigwins Gockel für tot. Münzen wandern von den finster Dreinblickenden in die Hände der diebisch Feixenden, und das Geflügel wird zum Rupfen und Ausnehmen auf den Tisch geworfen.
    Penhaligon könnte das Küchenpersonal wegen respektlosen Umgangs mit Offiziersessen bestrafen, aber er geht weiter zum Lazarett. Die hölzernen Trennwände reichen nicht ganz bis zur Decke, damit Tageslicht hereinfällt und die nach Krankheit riechende Luft entweichen kann. «Nein, nein, nein, du Spatzenhirn, das geht so ...» Der Sprecher ist Michael Tozer, der ebenfalls aus Cornwall stammt und von Charlie, dem Bruder des Kapitäns, vor elf Jahren als Freiwilliger auf die Dragon geschickt wurde, die Brigg, auf der Penhaligon damals Zweiter Leutnant war. Tozer und seine zehn Kumpane - inzwischen alle taugliche Seeleute - sind ihrem Förderer seitdem treu gefolgt. Er krächzt mit brüchiger Stimme:
    Siehst du nicht die Schiffe kommen?
Stolz blähen sich die Segel überm Deck.
Siehst du nicht die Schiffe kommen
Mit fetten Prisen im Gepäck?
Ach, mein schwankender Seemann,
Ach, mein hübscher Mann vom Meer,
Wenn sie heiter sind und lustig,
Lieb ich die Matrosen sehr.
    «Es heißt nicht ‹heiter›, Michael Tozer», widerspricht eine Stimme. «Es heißt ‹fröhlich›.»
    «‹Heiter›, ‹fröhlich›, wen juckt das? Das Entscheidende kommt erst, also halt den Rand.»
    Der Seemann schwimmt im Zaster,
Soldaten müssen arm verrecken,
Ein blauer Seemann ist mein Laster,
Soldaten könn' am Arsch mich lecken.
Ach, mein schwankender Seemann,
Ach, mein hübscher Mann vom Meer,
Soldaten soll'n zur Hölle gehen,
Matrosen aber lieb ich sehr.
    «So

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