Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
beantwortete. Ohne Marinus’ Kenntnisse der fernöstlichen Sprachen hätte Jacob die Aufgabe nicht bewältigt, aber gezeigt hat er dem Arzt die Schriftrolle nie, aus Furcht, seinen Freund in Gefahr zu bringen. Zweihundert Nächte waren nötig, bis er die Gebote des Shiranui-Schreins entziffert hatte, Nächte, die immer finsterer wurden, je näher sich Jacob an die Wahrheit herantastete. Die Arbeit ist getan, aber wie , denkt Jacob, soll ein Ausländer, der unter strenger Beobachtung steht, Gerechtigkeit bewirken? Eine Person mit der Macht des Statthalters müsste ihm Gehör schenken, damit wenigstens ein Hauch von Hoffnung besteht, Orito zu befreien und Enomoto seiner gerechten Strafe zuzuführen. Was würde wohl mit einem Chinesen in Middelburg geschehen, überlegt er, der den Herzog von Zeeland der Sittenlosigkeit und des Kindsmordes bezichtigte?
Der Mann im anderen Zimmer stöhnt: «Oh, oh mijn god, oh mijn god!»
Melchior van Cleef: Jacob errötet und hofft, dass sein Mädchen nicht aufwacht.
Prüderie am Morgen danach , gesteht er sich ein, ist das schlechte Gewissen des Heuchlers.
Das Kondom aus Ziegendarm liegt in Papier gewickelt neben dem Futon.
Ein widerliches Ding , denkt Jacob. Und ich bin genauso ...
Er denkt an Anna. Er muss sie von ihrem Versprechen erlösen.
Ein liebenswürdiges, ehrliches Mädchen wie sie , denkt er unbeirrt, hat einen besseren Ehemann verdient .
Er stellt sich vor, wie glücklich ihr Vater sein wird, wenn sie ihm die Neuigkeit überbringt.
Vielleicht , denkt er, hat sie ihr Versprechen schon vor Monaten gelöst.
Da in diesem Jahr kein Schiff aus Batavia gekommen ist, gab es weder eine Handelszeit noch Briefe ...
Unten auf der Straße ruft ein Wasserverkäufer: «O-miizu, O-miizu, O-miizu.»
... und die drohende Zahlungsunfähigkeit von Dejima und Nagasaki rückt unweigerlich näher.
Melchior van Cleef keucht: «OOO OOO oOoOoO oooo ...»
Nicht aufwachen, beschwört Jacob die schlafende Frau, nicht aufwachen, nicht aufwachen ...
Sie heißt Tsukinami, «Mondwelle»: Jacob gefiel ihre Schüchternheit.
Aber auch Schüchternheit, argwöhnt er, lässt sich mit Schminke und Puder auftragen .
Als sie alleine waren, lobte Tsukinami ihn für sein Japanisch.
Er hofft, dass sie sich nicht vor ihm geekelt hat. Sie nannte seine Augen «geschmückt».
Sie bat ihn um eine Strähne seines kupferroten Haars, als Erinnerung.
Der vom Liebesakt erschöpfte van Cleef lacht wie ein Pirat, der zusieht, wie sein Kontrahent von Haien zerfleischt wird.
Ist das Oritos Leben, denkt Jacob schaudernd, so wie es in Ogawas Schriftrolle steht?
Die Mühlsteine in seinem Gewissen mahlen und mahlen ...
Die Glocke des Ryūgaji-Tempels schlägt die Stunde des Kaninchens. Jacob zieht Hose und Hemd an, schöpft mit der Hand Wasser aus dem Krug, trinkt, wäscht sich das Gesicht und öffnet das Fenster. Ein herrschaftlicher Ausblick tut sich vor ihm auf: die an den Hang geschmiegten Treppengassen und dichtgedrängten Dächer, ein Mosaik aus fahlen Gelb-, Ocker- und Dunkelgrautönen, darunter die archengleiche Residenz des Statthalters, Dejima und dahinter das schmuddelige Meer.
Er gibt einem verrückten Impuls nach und klettert hinaus aufs Dach.
Langsam geht er mit bloßen Füßen über die noch kühlen Ziegel und hält sich an einem geschnitzten Karpfen fest.
Samstag, der 18. Oktober 1800 ist ein windstiller, blauer Tag.
Stare fliegen im Nebel: Wie ein Kind im Märchen möchte Jacob mit ihnen ziehen.
Lieber noch, träumt er vor sich hin, sollen sich meine runden Augen zu unsteten Ovalen formen ...
Von Osten nach Westen breitet der Himmel seinen Wolkenatlas aus.
... meine rosa Haut soll sich matt golden färben, mein sonderbares Haar soll unauffällig schwarz sein ...
Ein rumpelnder Karren in einer Gasse stört seine Träumereien.
... und mein plumper Körper soll sein wie ihre ... selbstsicher und geschmeidig.
Acht aufgezäumte Pferde ziehen durch eine Hauptstraße. Ihre Hufe hallen.
Wie weit würde ich kommen, überlegt Jacob, wenn ich vermummt durch die Straßen liefe?
... über Reisterrassen, hinauf ins Faltengebirge, bis in die Falten in den Falten.
Nicht bis zum Lehen Kyōga, denkt Jacob. Jemand hantiert an einem Fenster.
Er wartet, dass ein besorgter Beamter ihn zurückpfeift.
«Hat der galante Ritter de Zoet ...», der nackte, behaarte van Cleef bleckt grinsend die Zähne, «... gestern Nacht das Goldene Vlies gefunden?»
«Es war ...», nicht zu meiner Ehre, denkt Jacob, «...
Weitere Kostenlose Bücher