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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Phantasie, de Zoet, war besser als jedes Guckloch. Wenn Onkel Theo in sein eigenes Bett zurückgekehrt war, weinte Gloria so zart und leise vor sich hin, dass nur ich es hören konnte. Natürlich hatte sie in der Ehe nichts zu melden und durfte nur ein Dienstmädchen, ein junges Ding namens Aagje, von zu Hause mitnehmen, denn für den Preis einer Überfahrt zweiter Klasse bekam man auf dem Sklavenmarkt von Batavia gleich fünf Dienstmädchen. Gloria, das müssen Sie bedenken, war bis dahin kaum über den Singel hinausgekommen. Java war für sie so weit entfernt wie der Mond. Weiter sogar, denn den konnte sie in Amsterdam wenigstens sehen. Am nächsten Morgen war ich immer besonders freundlich zu meiner Tante ...»
    In einem Garten hängen Frauen an einem Wacholderbaum Wäsche auf.
    «Die Enkhuizen wurde vom Atlantik übel zugerichtet ...», van Cleef schüttet sich die letzten sonnenhellen Tropfen Bier auf die Zunge, «... und so beschloss der Kapitän, für die nötigen Reparaturen einen vierwöchigen Zwischenaufenthalt in Kapstadt einzulegen. Um Tante Gloria vor den Blicken des gemeinen Volks zu schützen, bezog Onkel Theo Räumlichkeiten in der Villa der Schwestern den Otter, hoch über Kapstadt zwischen dem Leeukop und dem Seinheuwel. Der zehn Kilometer lange Weg war bei nassem Wetter ein Sumpf und bei Trockenheit eine Strapaze für die Pferde. Die den Otters hatten vor langer Zeit zu den bedeutendsten Familien der Kolonie gehört, aber Ende der siebziger Jahre fiel der einst so berühmte Stuck von den Decken, die Obstplantagen verwandelten sich zurück in afrikanisches Buschland, und von den ehemals zwanzig bis dreißig Angestellten waren nur noch eine Haushälterin, ein Koch, ein Mädchen für alles und zwei weißhaarige schwarze Gärtner übrig, die beide «Boy» genannt wurden. Die Schwestern hielten sich keine Kutsche, sondern ließen bei Bedarf einen Landauer von einem der angrenzenden Gehöfte kommen, und die meisten ihrer Äußerungen begannen mit: ‹Als Papa noch am Leben war› und ‹Wenn der schwedische Botschafter zu Besuch kam›. Grauenhaft, de Zoet - einfach grauenhaft! Aber die junge Frau van Cleef wusste nur zu gut, was ihr Gatte hören wollte, und so nannte sie die Villa idyllisch abgeschieden, sicher und zauberhaft gespenstisch. Die Schwestern den Otter nannte sie ‹eine Schatztruhe voller Weisheiten und lehrreicher Geschichten›. Unsere Wirtinnen waren machtlos gegen ihre Schmeicheleien, und Onkel Theo freute sich über ihre Robustheit, ihre Klugheit und ihre Anmut ... Sie zog mir den Boden unter den Füßen weg, de Zoet. Gloria war Liebe. Liebe war Gloria.»
    Ein winziges Mädchen hüpft wie ein dürrer Frosch um einen Kakibaum herum.
    Ich vermisse den Anblick von Kindern , denkt Jacob, und wendet den Blick nach Dejima.
    «Nur wenige Tage nach unserer Ankunft trat Gloria in einem Hain mit wildwuchernden Lilien auf mich zu und verlangte, ich solle zu meinem Onkel gehen und ihm erzählen, sie hätte mir schöne Augen gemacht. Zuerst glaubte ich, ich hätte mich verhört. Aber sie wiederholte ihr Ansinnen: ‹Wenn du mein Freund bist, Melchior, und ich bete zu Gott, dass du es bist, denn ich habe in dieser Wildnis niemanden außer dir, dann geh zu meinem Mann und sage, ich hätte dir gestanden, dass ich ,unpassende Gefühle‘ für dich empfinde! Verwende genau diese Worte, sie könnten aus deinem Munde stammen.› Ich rief, ich könne unmöglich ihre Ehre beschmutzen oder sie der Gefahr aussetzen, dass er sie verprügele. Prügel werde sie bekommen, versicherte sie mir, wenn ich ihre Bitte ausschlüge oder meinem Onkel von unserer Unterhaltung erzählte. Nun, der Hain war in orangefarbenes Licht getaucht, und sie drückte meine Hand und sagte: ‹Tu es für mich, Melchior.› Und so tat ich es.»
    Aus dem Schornstein des Hauses der Glyzinien dringen dünne Rauchschwaden.
    «Als Onkel Theo mein falsches Zeugnis vernahm, schloss er sich zu meiner Verwunderung meiner wohlmeinenden Einschätzung an, die anstrengende Reise hätte ihre Nerven überreizt. Ich unternahm einen Spaziergang an der Steilküste, voll der Sorge vor dem, was Gloria daheim in der Villa drohte. Aber dann hielt Onkel Theo beim Mittagessen eine Rede über Familie, Gehorsam und Vertrauen. Nach dem Tischgebet dankte er Gott dafür, dass er ihm eine Ehefrau und einen Neffen geschenkt habe, in denen diese christlichen Tugenden blühten. Die den-Otter-Schwestern brachten mit ihren Apostellöffeln die Brandygläser zum Klingen und

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