Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
einem anderen Leben durchs Schlüsselloch betrachtet ...
Die Musik ist spinnwebzart, sternenhell und wie aus Glas geblasen.
Jacob hört wirklich ein Cembalo: Es ist der Arzt, der in seiner langgestreckten Dachkammer spielt.
Die nächtliche Stille und eine besondere Laune der Luft gewähren Jacob dieses Privileg: Marinus weist jede Bitte vorzuspielen schroff zurück, sogar wenn sie von befreundeten Gelehrten oder adligen Gästen kommt.
Die Musik weckt ein heftiges Verlangen, das von der Musik gelindert wird.
Wie kann ein so überheblicher Kerl , denkt Jacob, so göttlich spielen?
Nachtinsekten singen, sägen, bohren, flirren; rascheln, stechen, summen, schwirren.
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VI
Jacobs Zimmer im Großen Haus auf Dejima
Sehr früh am Morgen des 10. August 1799
Licht sickert durch die Fensterritzen: Jacob bereist mit den Augen das Fleckenarchipel an der niedrigen Holzdecke. Draußen unterhalten sich die Sklaven d’Orsaiy und Ignatius, während sie die Tiere füttern. Jacob denkt zurück an Annas Geburtstagsfeier wenige Tage vor seiner Abreise. Ihr Vater hatte ein halbes Dutzend sehr begehrter Junggesellen eingeladen und ein üppiges Mahl auftischen lassen, so raffiniert, dass der Fisch nach Huhn schmeckte und das Huhn nach Fisch. Voller Ironie hatte er das Glas auf «die Abenteuer des Jacob de Zoet, Handelsherr in Ostindien» erhoben. Anna hatte Jacobs Langmut mit einem Lächeln belohnt: Sie strich mit den Fingerspitzen über die Kette aus schwedischem weißem Bernstein, die er ihr aus Göteborg mitgebracht hatte.
Am anderen Ende der Welt seufzt Jacob vor Sehnsucht und Bedauern.
Plötzlich ruft Hanzaburo: «Herr Dazūto will etwas?»
«Nein, nichts. Es ist noch früh, Hanzaburo: Schlaf weiter.» Jacob macht ein Schnarchgeräusch.
«Schwein? Wollen Schwein? Ah, ah, ah, surīpu! Ja ... ja ... ich mag surīpu ...»
Jacob steht auf, trinkt Wasser aus einem gesprungenen Krug und schäumt Seife auf.
Aus dem fleckigen Spiegel beobachten ihn grüne Augen in einem sommersprossigen Gesicht.
Die stumpfe Klinge reißt die Stoppeln aus und schneidet sich ins Kinngrübchen.
Eine Träne aus Blut, rot wie eine Tulpe, quillt hervor, mischt sich mit der Seife und wird zu rosa Schaum.
Ein Bart , denkt Jacob, würde mir diese Unannehmlichkeiten ersparen ...
... aber dann erinnert er sich an den Spott seiner Schwester Geertje, als er aus England mit einem Schnurrbart zurückkehrte. «Tauch ihn in Lampenruß, Bruder, und wichs unsere Schuhe damit!» Am nächsten Tag rasierte er ihn ab.
Er fasst sich an die Nase, die ihm der in Ungnade gefallene Snitker vor ein paar Wochen krumm gehauen hat.
Die Kerbe an seinem Ohr ist ein Andenken an einen Hundebiss.
Beim Rasieren , denkt Jacob, liest ein Mann jeden Tag aufs Neue seine wahre Lebensgeschichte.
Er streicht sich über die Lippen und denkt an den Morgen seiner Abreise. Anna hatte ihren Vater überredet, sie und Jacob in seiner Kutsche zum Kai nach Rotterdam zu bringen. «Drei Minuten», hatte er zu Jacob gesagt, als er aus der Kutsche stieg, um mit dem Kontorleiter zu sprechen, «nicht eine Sekunde länger.» Anna wusste, was zu sagen war. «Fünf Jahre sind eine lange Zeit, aber die meisten Frauen warten ihr halbes Leben, bis sie einen guten, ehrlichen Mann finden.» Jacob hatte etwas erwidern wollen, aber sie ließ ihn nicht. «Ich weiß, wie Männer in Übersee sind und vielleicht sogar sein müssen - sei still, Jacob de Zoet -, und darum verlange ich nicht mehr von dir, als dass du dich auf Java vorsiehst und nie vergisst, dass dein Herz nur mir allein gehört. Ich habe keinen Ring, kein Medaillon für dich, denn Ringe und Medaillons können verlorengehen, aber das kannst du nicht verlieren ...» Dann hatte sie ihn zum ersten und zum letzten Mal geküsst. Es war ein langer, trauriger Kuss. Sie sahen dem Regen zu, der an den Fenstern hinunterlief, den Schiffen und dem schiefergrauen Meer, bis es Zeit zum Aufbruch war ...
Jacob ist fertig mit Rasieren. Er wischt sich das Gesicht ab, kleidet sich an und poliert einen Apfel.
Fräulein Aibagawa , er beißt in die Frucht, ist eine Gelehrte, keine Kurtisane ...
Vom Fenster aus sieht er d’Orsaiy beim Wässern der Stangenbohnen zu.
... Ein verbotenes Treffen oder gar ein verbotenes Liebesabenteuer ist auf Dejima unmöglich.
Er isst das Gehäuse und spuckt die Kerne auf den Handrücken.
Ich will mich nur unterhalten , da ist sich Jacob sicher, und ein wenig mehr über sie erfahren ...
Er löst die Kette mit dem
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