Die Teerose
Essen fertig war, fragte er Joe, wo er wohne, und machte sich auf den Weg.
»Kann gut sein, daß er dich überrascht«, sagte Brendan und sah ihm nach.
»Schlechter als ich kann er’s kaum machen.«
Brendan lehnte sich zurück und wischte sich den Mund ab. Dann rülpste er und sagte: »Also, ich muß auch los. Ich muß mir für meine Arbeit ein Paar gute Lederstiefel kaufen.«
Sie verabschiedeten sich, und Brendan ging nach Süden, Joe nach Norden. Seine Laune besserte sich beim Gehen. Als die Mietshäuser auf der Lower East Side allmählich den vornehmen Bauten am Gramercy Park Platz machten, fühlte er sich nicht mehr so bedrückt, sondern sogar ein wenig zuversichtlich. Einige Teile der Stadt waren sehr hübsch, und dieser gehörte dazu. Es stimmte, New York hatte seine düsteren Seiten, war aber gleichzeitig ein aufregender Ort. Und – durch die Augen von Brendan, Alfie und Fred gesehen – voller Versprechungen und Hoffnung. Es war ein Ort, um ganz von vorn anzufangen und ein völlig neues Leben zu beginnen. Ein Ort für eine zweite Chance. Vielleicht sogar für ihn.
Als er am Irving Place vorbeikam, erregte eine Auseinandersetzung zwischen ein paar Arbeitern und ihrem Vorarbeiter seine Aufmerksamkeit. »Was zum Teufel ist denn los mit euch? Habt ihr keine Ohren? Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt das eine Schild abnehmen und das andere – das für die Galerie – aufhängen.«
»Ich dachte, die sollten beide raufkommen, das eine unter das andere«, sagte einer der Männer.
Joe erblickte den Grund des Streits. Es war ein hübsches, handgemaltes Schild an der Vorderfront eines Backsteinhauses. TEA ROSE stand darauf.
»Sie ist oben«, sagte der Vorarbeiter. »Sie kommt gleich runter. Sie hat mir aufgetragen, das Schild gleich abzunehmen. Wenn sie sieht, was ihr getan habt, wird sie fuchsteufelswild. Und dann könnt ihr von mir was erleben. Ihr wißt doch, wie sie ist. Also macht schon.«
Joe schüttelte den Kopf. Wer immer die Frau auch war, der dieses Haus gehörte, sie mußte eine Megäre sein. Jedenfalls hatte sie diesen Männern gehörigen Respekt eingeflößt. Er ging weiter in Richtung der Twentythird Street, wo er hoffte, daß ein M.R. Finnegan, ein Kurzwarenhändler, der Mann war, nach dem er suchte.
53
F iona stand in einer vornehmen Ankleidekabine mit vielen Spiegeln und sah mit skeptischem Blick auf das Korsett, in das man sie geschnürt hatte. »Ich will keins. Ich mag sie nicht. Sie drücken«, sagte sie.
Madame Eugénie, die exklusivste Modeschöpferin der Stadt, ließ ihren Einwand nicht gelten. »Es geht nicht darum, was Sie wollen, sondern was das Kleid erfordert«, erklärte sie. Mit geschürzten Lippen ging sie um Fiona herum, begutachtete die Wirkung des Korsetts und schüttelte dann unzufrieden den Kopf. »Simone!« rief sie streng.
Eine unscheinbare junge Frau mit einem Nadelkissen am Handgelenk erschien. »Ja, Madame?«
»Zieh es fester. Hör auf, wenn ich’s sage.«
Fiona spürte, wie das Mädchen den Knoten an ihrem Rücken löste. Dann spürte sie, wie sie ihr das Knie in den Rücken stemmte und anzog. »Halt!« protestierte sie. »Das ist zu eng! Damit kann ich mich ja nicht mehr setzen oder essen … nicht mal mehr denken!«
Madame Eugénie blieb ungerührt. »An Ihrem Hochzeitstag setzen Sie sich nicht, sonst verknittern Sie das Kleid. Und essen werden Sie auch nicht, sonst kommen Flecken darauf. Und denken werden Sie auf gar keinen Fall, sonst ruinieren Sie sich Ihr hübsches Gesicht mit Falten. Sie haben nur eines zu tun – hübsch auszusehen. Noch ein bißchen mehr, Simone …«, fügte sie hinzu und klopfte auf die Seiten des Korsetts.
Simone machte einen letzten heftigen Ruck. Während sie das tat, griff Madame in die Vorderseite des Kleids, nahm Fionas Brüste und schob sie nach oben. »Jetzt!« befahl sie. Simone verknotete die Bänder, und Fiona betrachtete ihren plötzlich üppigen Busen.
»Mein Gott, der ist ja zweimal so groß wie vorher!« sagte sie und drehte sich zu Mary und Maddie um, die auf Hockern hinter ihr saßen.
»Sieh dich an!« rief Maddie aus. »Es ist wundervoll! Ich besorg mir genauso eins.«
Madame und Simone gingen hinaus, um das Hochzeitskleid zu holen. Fiona wandte sich wieder zum Spiegel um und sah sich mit gerunzelter Stirn an. Das verdammte Korsett schnürte sie entsetzlich ein, sie konnte sich kaum bewegen und bekam fast keine Luft. Entmutigt schrie sie auf, löste die Bänder, riß das Korsett herunter und warf es
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