Die Teerose
daß sie keine Ahnung von einer Einigung, geschweige denn von einem Sieg hatte. Am Morgen hatte sie Michael gebeten, auf dem Weg zur Bank nachzusehen, ob es die Zeitung am Stand gab. Er war mit einem Exemplar heimgekommen, aber als er es ihr geben wollte, war sie im Laden so beschäftigt gewesen, daß sie ihn bat, sie in die Wohnung zu legen. Und erst vor ein paar Minuten hatte sie einen Blick darauf geworfen. Als sie jetzt über die Verhandlungen, die Zugeständnisse und den Sieg las, daß die Kutsche der Gewerkschaftsführer Ben Tillet und John Burns ausgespannt und von euphorischen Arbeitern durch die Straßen gezogen und ausgelassen gefeiert wurde, daß die Frauen zu Tausenden auf die Commercial Street strömten, um ihren Männern und Söhnen zuzujubeln, konnte sie immer noch nicht glauben, was geschehen war.
Sie hatten es geschafft. Die Dockarbeiter hatten gewonnen.
Gegen alle Widrigkeiten hatten sich die einfachen Arbeiter vom Fluß zusammengeschlossen, sich gegen Armut und Hunger gewehrt und über ihre Ausbeuter triumphiert. Mittellos, oft nicht einmal des Lesens mächtig und in politischen Dingen unbewandert, hatten sie zusammengestanden und gewonnen.
Voller Liebe dachte Fiona an ihren Vater. Auch er war ein Teil dieses Streiks gewesen, und dieser Sieg hätte ihm alles bedeutet. »Du hättest dabeisein sollen, Pa«, flüsterte sie. »Es war dein Kampf. Du hättest erleben sollen, wie er gewonnen wurde.« Sie wischte sich die Augen ab. Trotz ihres Glücks empfand sie auch Kummer. Und Verbitterung. Wie immer, wenn sie daran dachte, was mit ihrem Vater geschehen war … und warum.
Doch jetzt, etwa ein Jahr nach seinem Tod, hatte sich das komplexe Gemisch ihrer Gefühle verändert. Stolz, Verlust und Trauer waren ungeschwächt, ihre Wut auf William Burton noch immer immens, aber die Angst, die sie in der Nacht ihrer Flucht aus Whitechapel verspürt hatte, die Verzweiflung und das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit waren verschwunden.
Sie stellte sich vor, wie Burton ausgesehen haben mußte, als er von dem Sieg erfuhr. Wie er schweigend und innerlich kochend an seinem Schreibtisch saß. Zum erstenmal machtlos. Er war nicht mehr die allmächtige Gestalt, der Herr der Leute, für den er sich hielt. Er hatte gemordet, um die Gewerkschaft aufzuhalten, hatte ihre Familie zerstört, um seine Ziele zu erreichen. Aber ihm war gezeigt worden, daß er die Kräfte der Gewerkschaft genausowenig stoppen konnte wie ein Kind die See, die seine Sandburg fortspült. Die Gerechtigkeit hatte gesiegt. Die Dockarbeiter hatten ihr Recht bekommen. Und eines Tages bekäme auch sie ihr Recht.
Sie spürte, daß dieser Sieg ein Zeichen war, ein gutes Omen. Ihr Leben hatte sich verändert und würde sich weiter verändern. Zum Besseren. Das spürte sie. Sie war kein verängstigtes Mädchen mehr, das allein in der Welt stand und sich an niemanden wenden konnte. Sie hatte ihre Familie, ihre Freunde. Und in einer Woche hätte sie Will. Er würde ihr Ehemann, ihr Beschützer sein und sie vor Leuten wie Burton und Sheehan für immer bewahren.
Nur noch eine Woche bis zur Hochzeit, dachte sie. Obwohl es eine kleine Feier werden würde – nur die Familie und die engsten Freunde –, gab es noch so viel zu tun. Sie war froh, einen Abend für sich zu haben, und selten genug war das Haus so still wie heute. Michael und Mary sahen sich eine Show an. Alec, Ian und Nell waren oben, Seamie schlief. Selbst Will war auf Geschäftsreise in Pittsburgh – seine letzte Reise vor der Hochzeit. Sie legte die Zeitung weg und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Dort schnitt sie sich ein Stück von Marys Zitronenkuchen ab und machte sich eine Kanne Vanilletee, die sie mit ins Wohnzimmer nahm. Während der Tee zog, suchte sie nach Papier und Bleistift, um eine Liste der Dinge aufzustellen, die sie noch erledigen mußte.
Eine Stunde später, nachdem sie den Kuchen gegessen und mit der Liste fertig war, döste sie auf dem Sofa. Eine frische Herbstbrise blies durchs Fenster, die bereits ein wenig nach gefallenen Blättern und Kohlerauch roch. Das Wetter schlug um. Sie zog ihren Schal enger um sich und kuschelte sich auf die Couch. Kurz bevor sie ganz einschlief, hörte sie lautes Klopfen an der Eingangstür, und auf der Straße wurde ihr Name gerufen. Verwirrt setzte sie sich auf.
»Hallooo! Wohnen da die Finnegans? Ist jemand daheim?«
Einmal einen ruhigen Abend zu haben ist hier wohl zuviel verlangt, dachte sie und ging zum Fenster. Sie zog die
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