Die Templerverschwoerung
drauf, spendete anderen Trost und brauchte selber keinen. Nur ein einziges Mal hatte sie sie so erlebt wie jetzt. Das war vor sieben Jahren gewesen, als die Tragödie sie beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte. Aber das war etwas ganz anderes. Was immer sie bewegte, Mariyam schien damit fertig zu werden, zumindest hatte es den Anschein.
»Etwas zu essen findest du im Kühlschrank. Du tust mir einen Gefallen, wenn du davon so viel wie möglich nimmst. Der Kaiser schläft immer noch in der Küche. Du wirst sehen, er hat einen tollen neuen Schlafkorb – oben mit Kuppel und unten mit Heizdecke. Sein Futter liegt nach wie vor im roten Schränkchen.«
Der volle Name des Kaisers war Haile Selassie – zu Ehren des letzten Monarchen Äthiopiens, der 1975 verstorben war. So nannte Abebe ihren Kater, einen gepflegten, schokoladenbraunenAbessinier, der aus Holland nach Großbritannien gekommen war. Ein gutmütiges Tier, das Mariyam kannte. Sie war wohl nicht gerade seine Freundin, denn bei Katzen gibt es so etwas nicht, aber ein wohlgelittener Hausgast.
Abebe warf die letzten Sachen in eine große Tasche, gab Mariyam einen Abschiedskuss und rauschte in ihrem BMW davon. Mariyam ging ins Haus zurück. Sie konnte nicht klar denken. Was der Polizist ihr da berichtet hatte, ergab für sie keinen Sinn. Warum sollte jemand so viele Studenten und ihren absolut harmlosen Professor umbringen? Ihr fiel einfach kein Motiv ein. Sie wusste, dass Kaleb vorgehabt hatte, das Seminar über das Matshafa und dessen Inhalt zu informieren. Aber das war doch nur eine intellektuelle Übung. Er hatte ihr auch gesagt, dass er im nächsten Semester mit seinen Studenten nach London kommen und ihnen das Original zeigen wollte. Und er hatte vor, selbst an dem Text zu arbeiten. Mariyam hatte er vorgeschlagen, gemeinsam das Büchlein mit einer englischen Übersetzung zu editieren. Sie brannte darauf, mit der Arbeit zu beginnen.
Aber diese Pläne konnten unmöglich acht Morde ausgelöst haben. Ob es einer der Studenten gewesen war? Ihr fiel ein, dass eine der jungen Frauen namens Bezawit Abraha aus einer sehr reichen Familie in Addis stammte, die enge Beziehungen zur Regierung unterhielt und mit Handelsgeschäften aller Art, darunter auch ziemlich undurchsichtigen, befasst war. Konnte es sein, dass Bezawit in eine illegale Angelegenheit verwickelt war und dabei ihre Kommilitonen mit in den Abgrund gerissen hatte? Gerüchte wollten wissen, dass ihr Vater Negussie im Jahre 2008 an illegalen Goldgeschäften der Nationalbank von Äthiopien mitgewirkt hatte. Er selbst war der Vorstandsvorsitzende und Eigentümer der kleineren Sekele-Bank von Tigre. Aber das waren reine Spekulationen,die keine Basis für Ermittlungen in einem Mordfall abgaben. Trotzdem wollte sie den Chief Inspector am nächsten Morgen darauf hinweisen. Wie hieß der noch mal? Es hatte irisch geklungen. Donovan? O’Donovan.
Schlagartig überfiel sie bleierne Müdigkeit. Sie fühlte sich von dem traurigen Ereignis total abgestumpft. Sie stellte Haile Selassie etwas zu fressen hin, nahm ihre Reisetasche und stieg die Treppe hinauf.
Nachts wurde sie wach. Ringsum war es stockdunkel. Ihr ganzer Körper tat ihr weh und ihr Kopf war trübe, als hätte sie sich beim Yoga-Training übernommen. Als sie auf den Beleuchtungsknopf des Weckers drückte, fiel ihr ein, dass sie nicht zu Hause war, aber zuerst begriff sie gar nicht, wo sie sich befand. Etwas hatte sie aus tiefem Schlaf gerissen. Jetzt fiel ihr ein, dass sie in Abebes Haus war. Hatte sich der Kaiser gemeldet?
Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Nicht draußen, sondern im Haus. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als drücke eine Faust darauf. Das war nicht etwas, sondern jemand.
Wie auf ein Stichwort hörte sie jetzt Stimmen. Mehrere, das war sicher. Sie kamen aus dem Korridor vor ihrem Zimmer, vom Treppenabsatz und wahrscheinlich auch aus dem Parterre. Ihr Atem ging schneller. Gespenster? Ihr fiel ein, dass ihre Haushaltshilfe in Axum immer davon gesprochen hatte und behauptete, sie habe im Hause ihres Onkels eines mit eigenen Augen gesehen. Es sei mit nackten Sohlen über den Fußboden gepatscht, hätte Haar wie Spinnweben, Augen wie ein Geier gehabt und ihr mit hoher Stimme etwas ins Ohr geflüstert.
Mariyam glaubte nicht an Gespenster, aber die Stimmen draußen ließen sie an ihre naive Gefährtin denken, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete.
Sie hörte, wie Türen geöffnet und geschlossen wurden. Jemand suchte nach ihr.
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