Die Teppichvölker: Roman (German Edition)
Pferds stand nun neben der eines sechsbeinigen Ponys.
Alles in Snibril drängte danach, sich zu dem Zänker umzudrehen, aber er hielt diesem Verlangen stand und überlegte fieberhaft, während sich ihm das Klirren und Klimpern langsam näherte.
Einige Sekunden später glaubte der Munrung, eine Lösung für sein Problem gefunden zu haben. Er gab dem Drängen nach und drehte sich um, wobei er den Schild vor die Augen hob. Darunter sah er die Beine des Zänkers. Der Abstand zu ihnen schrumpfte immer mehr. Und das Geschöpf blieb in Bewegung. Die hornigen Füße mit den langen Krallen kamen immer näher …
Ich hätte mich in Stein verwandeln sollen , dachte Snibril. Ich habe die Augen gesehen. Das mit dem Schild war zweifellos eine ausgezeichnete Idee. Leider erschöpfte sich damit sein Vorrat an guten Einfällen.
Langsam wich er zurück. Und dann verharrte der Zänker. Weil er einen anderen Zänker sah: Der Schild präsentierte ihm ein schuppiges grünes Gesicht. Eine Halskette reichte übers rechte Ohr hinweg. Endlich hatte das Wesen die Gesellschaft eines Artgenossen gefunden. Unglücklicherweise konnte es sich nicht lange daran erfreuen, denn Snibril zitterte so sehr, daß er den Schild neigte. Das grüne Gesicht verschwand.
Zunächst herrschte entsetzte Stille, und dann heulte der Zänker kummervoll – ein Geräusch, das laut im Haarwald widerhallte. Ein gewaltiger Fuß stampfte auf, und unmittelbar im Anschluß daran sank das Wesen zu Boden, hockte dort und schluchzte hingebungsvoll. Gelegentlich hob und senkte sich der Schwanz, um auf das hölzerne Pflaster herabzuhämmern. Genau dort schien das Schluchzen zu beginnen: Es hatte seinen Ursprung in der Schwanzspitze, und auf dem Weg zum Schnabel schwoll es immer mehr an.
Es klang nicht nur entsetzlich, sondern auch mitleiderweckend. Nichts und niemand sollten so viele Tränen vergießen dürfen.
Snibril beobachtete, wie sie eine Lache bildeten, die immer mehr wuchs und die Statue eines Haarschweins an der Wand erreichte. Die daraufhin in Bewegung geriet: Ihre Schnauze zuckte. Und noch weiter dehnte sich die Lache aus, wurde zu einem kleinen Teich. Einige andere Statuen erwachten aus ihrer Starre, als sie von dem Naß berührt wurden, doch die ältesten blieben reglos, verharrten unter der dicken Schicht aus Staub und Kletterpflanzen. Zwischen ihren Beinen schwammen kleine Geschöpfe und versuchten tapfer, in die Freiheit zurückzukehren.
Snibril schöpfte die Tränen mit dem Schild und bespritzte Roland damit. Dann kam das kleine Pony an die Reihe – verdutzt sah es zu dem Munrung auf. Er eilte zum Krieger am Schatz und wiederholte dort die Behandlung.
Es erfolgte keine sofortige Reaktion. Mehrere Sekunden verstrichen, bis schließlich ein Lid zuckte. Die ausgestreckte Hand mit der Halskette senkte sich. Einen Augenblick später war der kleine Krieger plötzlich sehr lebendig. Er ließ die Kette fallen, sah Snibril überrascht an und brachte hervor: »Bei Kones Knochen – wo kommst du denn plötzlich her?«
Dann bemerkte er den Zänker in einem ganz persönlichen Meer aus Tränen. Die Hand tastete zum Hals, entdeckte dort die Ranke einer Schlingpflanze.
Er bedachte Snibril mit einem nachdenklichen Blick. »Seit wann bin ich hier, Fremder?«
»Keine Ahnung. Dies ist das dritte Jahr nach dem Zweiten Zählen während der Herrschaft des Gebieters Targon von Wehr.«
»Bist du ein Dumii?« fragte die erlöste Statue und befreite sich von der Ranke.
»In gewisser Weise.«
»Ich nicht«, verkündete der Krieger stolz. »Wir zählen nicht. Aber ich habe von Targon gehört. Während seines siebenundzwanzigsten Herrschaftsjahrs kam ich hierher.«
»Dann hast du etwa ein Jahr an diesem Ort verbracht«, meinte Snibril.
»Ein Jahr«, murmelte der kleine Mann. »Seit einem Jahr bin ich fort. Viel zu lange.« Er verbeugte sich würdevoll. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Fremder. Du sollst belohnt werden. Ich, Brocando, Sohn von Broc, des Herrn von Wagnis, verspreche es. Ja, dir gebührt Belohnung.«
»Ich habe dich nicht gerettet, um dafür belohnt zu werden«, erwiderte Snibril. »Ich wollte nur, daß der Zänker endlich damit aufhört, alles in Statuen zu verwandeln.«
»Was führt dich hierher?« fragte Brocando, und es glitzerte in seinen Augen. »Der Schatz, nicht wahr?«
»Nein. Äh, was hältst du davon, wenn wir diesen Ort verlassen?« Er deutete zum weinenden Zänker hinüber. »Wenn das Wesen dort beschließt, den Blick auf uns zu
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