Die Teppichvölker: Roman (German Edition)
Zuschauer veranlaßte, sich umzudrehen und davonzueilen. »Sieh nur!«
Snibril kam der Aufforderung nach und starrte in die Augen des Mouls. Sie standen weit offen und boten dem Blick des Betrachters Schwärze dar. Doch irgendwo tief in ihrem Innern glühte ein winziger Funken, gefangen in Dunkelheit.
Der Munrung schauderte und wandte sich an Pismire.
»Bemerkenswert«, sagte der Schamane. »Vorzeitige Versteinerung. Ich wußte gar nicht, daß es in dieser Gegend Zänker gibt. Heute nacht sollten wir Wächter einsetzen, die gut hören können.«
»Warum?« fragte Clurk.
»Weil wir ihnen die Augen verbinden.«
»Warum?«
Ein Schrei – und Yrno Berius lief zum Schamanen. Er hielt einen seiner Hunde in den Armen.
»Er hat gebellt«, schnaufte Berius. »Und als ich nach dem Rechten sah, fand ich ihn so.«
Pismire untersuchte das Tier.
»Du kannst von Glück sagen«, meinte er.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Yrno.
»Meine Worte bezogen sich nicht auf den Hund, sondern auf dich.«
Der Hund hatte sich zum Sprung geduckt, die Zähne gefletscht und den Schwanz eingezogen.
»Zänker?« wiederholte Snibril und wandte den Blick ab. »Was meinst du damit?«
»Geschöpfe ganz besonderer Art«, sagte Pismire. »Wir wissen nur, wie sie von hinten aussehen. Leider haben wir nicht die geringste Ahnung, wie Gesicht oder Schnauze beschaffen sind. Wer Gelegenheit bekam, einen Blick auf die betreffende Körperseite zu werfen, konnte uns nachher nichts mehr erzählen. Der Grund: Die betreffenden Personen – oder Tiere – verwandeln sich in Stein. Warum? Darauf weiß niemand eine Antwort. Faszinierend. Habe seit Jahren nichts mehr von den Zänkern gehört. Dachte schon, sie seien alle ausgestorben.«
An jenem Abend kam der Schamane nur knapp mit dem Leben davon. Er war immer der Ansicht gewesen, Ziegenmilch sei für einen Philosophen sehr wichtig. Deshalb hatte er von Glurk kurz nach Beginn der Reise eine Ziege gekauft.
Sie hieß Chrystobella und haßte Pismire mit der ganzen Kraft ihres animalischen Wesens. Wenn sie nicht gemelkt werden wollte, was zweimal am Tag geschah, sorgte sie im Lager für beliebte Unterhaltung, indem sie zwischen den Wagen hin und her hüpfte, während der keuchende Pismire sie einzufangen versuchte. Mütter weckten ihre Kinder, damit sie zusehen konnten. Einen solchen Anblick würden sie nie wieder vergessen, hieß es.
Diesmal sauste Chrystobella mit lautem Blöken an den Karren vorbei in den Wald aus Haaren. Der Schamane folgte ihr, eilte durch die Dunkelheit und stolperte über etwas Hartes …
Weiter vorn verschmolz ein Schatten mit der Finsternis, und irgendwo klimperte es.
Pismire kehrte mit der Statue einer Ziege zurück. Langsam stellte er sie ab und klopfte ihr auf die Schnauze.
Es machte Ping.
»Jetzt sollte ein lautes ›Määäääh‹ ertönen«, sagte der alte Schamane. »Heute nacht verläßt niemand das Lager.«
Zehn Männer standen mit verbundenen Augen am Rand des Kreises. Zu ihnen gehörte auch Snibril. Er hielt neben Roland Wache, der Scheuklappen trug.
Am nächsten Abend wiederholte sich dieses Ritual. In der übernächsten Nacht erwischte es die Kuh der Witwe Mulluck. Das arme Tier gab ein leises Ping von sich, verzichtete auf das laute und vertraute Muu-uuh.
Niemand wollte weiterziehen, und die Munrungs schoben die Wagen enger zusammen, ohne daß jemand Anweisungen erteilte.
Manchmal hörten sie ein sonderbares Klirren zwischen den Haaren.
In der dritten Nacht hielt Snibril bei einem der Karren Wache und war halb eingeschlafen, als er plötzlich dumpfes Knirschen hinter sich vernahm. Etwas Großes lauerte im Gebüsch – er hörte deutlich, wie es atmete.
Er wollte sich umdrehen, als ihm das Klimpern an die Ohren drang.
Das Geschöpf ist hier , fuhr es ihm durch den Sinn. Es befindet sich direkt hinter mir. Wenn ich mich jetzt umdrehe, erstarre auch ich zu Stein. Aber wenn ich mich nicht umdrehe … Verwandle ich mich dann in eine Mahlzeit?
Etwa hundert Jahre lang stand er reglos …
Nach einer Weile wurde das Schnaufen leiser, und Snibril riskierte einen Blick. Im trüben Licht sah er etwas Massiges, mindestens zweimal so groß wie er. Das Wesen verschwand zwischen den Büschen …
Ich sollte jemanden rufen , dachte der Munrung. Aber dann laufen die anderen durcheinander, schreien, geben sich gegenseitig Anweisungen und stolpern über alle möglichen Dinge. Was dem Zänker Zeit genug gibt, im Haarwald zu verschwinden. Andererseits: Ich muß irgend
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