Die Terranauten 031 - Der Einsame von Ultima Thule
hergerichtet hatte, war aufgewacht und beschwerte sich über die Ruhestörung.
Keller stand auf und ging zum Ultraschallspürer, auf dessen obere Platte er die tragbare Mulde gestellt hatte. Das Kind. Er mußte Valdec seinen guten Willen beweisen.
Er hob die Mulde herunter und eilte zur Tür. Das Baby schrie noch immer, aber das schadete nichts. Jeder, der ihn damit sah, würde annehmen, er wolle das Neugeborene in sein Quartier mitnehmen, um dort für es sorgen zu können.
In der hohen, überbreiten Tür, die für die Durchfahrt von medizinischen Apparaten geplant war, öffnete sich der kleine Durchlaß, der für gewöhnlich benutzt wurde. Keller trat in den Gang hinaus, aber erst als die Tür sich langsam schloß und der Lichtbalken aus der Praxis immer schmaler wurde, bemerkte er die Dunkelheit.
Die Gänge des Palastes waren Tag und Nacht beleuchtet, wobei sich die Helligkeit den Umständen entsprechend selbst regulierte.
Keller zögerte. Ein Defekt? Höchstwahrscheinlich. Er konnte in die Praxis zurückgehen und die Panne melden, aber er wußte, daß er dann nicht mehr den Mut haben würde, sein Unternehmen durchzuführen.
Vorsichtig, mit kleinen Schritten, ging er weiter, obwohl er nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Das Baby schrie aus Leibeskräften.
Plötzlich blieb Keller stehen. Vor sich sah er einen ungewissen hellen Schimmer, der die Umrisse einer menschlichen Gestalt andeutete.
Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Seine Augen spielten ihm einen Streich. Energisch machte er ein paar Schritte, nur um erneut stehenzubleiben. Der Schimmer war näher gekommen. Noch immer konnte er keine Einzelheiten erkennen, aber er spürte den Atem eines menschlichen Wesens, das unmittelbar vor ihm stehen mußte.
»Das Kind! Gib es her!« befahl eine lautlose Stimme in Kellers Kopf.
»Nein!« Keller dachte an die toten Gesichter, die er gesehen hatte, und erschauerte.
»Gehorche!«
»Nein!«
»Das Kind!«
»Nein!«
Aus dem Nichts tauchte eine Faust auf, deren Finger sich öffneten. Eine goldfarbene Mistelblüte, deren Blätter sich bewegten wie die Flügel eines Schmetterlings, schwang sich durch die Finsternis auf Keller zu. Er fühlte den kühlen Luftzug, als sie seine Stirn berührte – und dann nichts mehr.
Für Summacum Dottore Keller war die Welt stehengeblieben und vergangen, und er mit ihr. Tot sank er langsam auf die Knie, und sein Oberkörper neigte sich seitlich gegen die Wand, die ihn stützte. Die Mulde mit dem jetzt schweigenden Kind entglitt seinen leblosen Armen.
*
Merlin schritt leise in die Kanzlei und fand Growan hinter seinem Computertisch sitzend, dessen Sensoraugen dunkel und tot ins Nichts starrten.
Growan hob nicht den Kopf, als er zu sprechen begann. Vielleicht hatte er nicht einmal bemerkt, daß jemand eingetreten war.
»Ich hatte gehofft, daß zwischen uns alles wieder gut würde, sobald das Kind auf der Welt war. Deshalb habe ich sie gewähren lassen. Sie sollte ohne Haß wieder zu mir finden, mit unserem Kind. Aber sie mußte sterben. Womit habe ich das Unglück verschuldet?«
»Ich bringe deinen Sohn«, sagte Merlin.
»Sie haben mich alle verlassen – Myriam, Mar-Estos, Clint Gayheen«, sprach Growan monoton weiter. »Gestorben, verschwunden. Alle, die ich geliebt und denen ich vertraut habe. Was bin ich jetzt noch? Ein alternder Mann mit einem reichen Konzern.«
»Ich bringe deinen Sohn!« wiederholte Merlin.
Endlich schien Growan zu hören. Er blickte auf, aber es dauerte eine Weile, bis er begriff, wer vor ihm stand.
»Du? In meinem Palast?« fragte er gleichgültig. »Was willst du hier?«
»Ich bin gekommen, um Growan terGorden daran zu erinnern, daß er einen Sohn hat und daß dieser Sohn ihn braucht.«
Growan schüttelte leise lachend den Kopf. »Nicht mein Sohn«, antwortete er. »Sie hat es selbst gesagt – er ist nicht mein Sohn. Er ist der Abkömmling Yggdrasils, des verfluchten Baumes, der sie auf dem Gewissen hat. Oder bist du schuld an ihrem Tod? Oder Keller? Oder ich? Sag mir, wer an ihrem Tod schuld ist!«
»Niemand. Es lag nicht in unserer Hand, den Weg zu ändern, der ihr bestimmt war. Aber sie hat dir ihren Sohn hinterlassen. Und dieses Programm hier.« Merlin legte eine Magnetkassette vor den Generalmanag.
Dann stellte er die Mulde mit dem schlafenden David auf den Computertisch.
Growan zog die Umhüllung beiseite und betrachtete lange den kleinen Körper.
»Er ist nicht mein Sohn«, sagte er dann. »Er ist ein Ungeheuer.
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