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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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abzuholen und zu seiner Mutter zurückzubringen. Ich garantiere, dass das Kind im wahren katholischen Glauben aufgezogen und von Liebe und Fürsorge umgeben sein wird und –«
    »Der Name«, sagte die Stimme.
    »Wie?«
    »Weißt du den Namen des Kindes?«
    »Wenzel.«
    Wieder das Schweigen; so lange, dass sich das Klopfen vonAndrejs Herz verlangsamte und eine unbestimmte Angst in seine Beine stieg, die ihn schwach machte. »Nein«, sagte die Stimme endlich. »Nein. Wir haben ihm den Namen Zwölfter November gegeben.«
    Andrej blinzelte verwirrt.
    »Wir wussten seinen Namen nicht. Niemand hat ihn uns gesagt. Ich habe ihn erst durch Pater Xavier erfahren.«
    »Ja«, sagte Andrej. Sein Hals schmerzte. »Was soll’s. Ich werde es ihr nicht erzählen. Das ist nun alles vorbei.«
    Die Mutter Oberin schnaubte. Es klang nicht verächtlich, es klang resigniert.
    »Du weißt nichts«, sagte sie.
    »Ich weiß, dass ich Yolanta –«
    »Es ist tot.«
    »– liebe und dass ich nicht länger zulasse, dass sie von irgendjemandem –«
    »Es ist tot. Das Kind ist tot.«
    »– damit erpresst wird, dass ihr Kind ihr vorenthalten wird und sie um seine Gesundheit –« Andrejs Stimme erstarb. »Was haben Sie gesagt?«
    »Es ist tot«, flüsterte die Oberin. »Wenzel. Zwölfter November. Wie immer du es nennen willst. Es war schon tot, bevor der Dominikaner hier auftauchte.«
    Andrej sagte nichts. Seine Gedanken waren zum Stillstand gekommen. Selbst sein Herz stand still. Eine Kälte erfasste ihn, die nichts mit Temperatur zu tun hatte.
    »Ich verstehe nicht –«, stotterte er.
    »Es war krank und schwach. Dieses Haus ist gegründet worden, damit die Kinder von gefallenen Frauen nicht in der Gosse sterben. Dafür sterben sie in unseren Händen«, sagte die Oberin. »Die Stifter haben deswegen ein reineres Gewissen, Gott behüte sie.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Er hat es ihr nicht gesagt, oder?«
    Andrej begann zu weinen. Er hatte das Gefühl, man habe ihm den Tod seines eigenen Kindes mitgeteilt.
    Die Oberin schnaubte aufs Neue. »Er hat es ihr nicht gesagt. Er hat sie weiterhin hoffen lassen, obwohl er die Wahrheit wusste. Gott sei ihrer Seele gnädig. Und deiner Seele auch, mein Sohn.«
    Andrej schlang die Arme um den Oberkörper und schluchzte. Er weinte um das Leben eines Kindes, das nicht hatte erblühen dürfen, weil niemand ihm eine Chance gegeben hatte, und um das Herz Yolantas, das bei dieser Nachricht brechen würde. Er weinte um die Liebe, die sie ohne ihr Wissen einem toten Kind gegeben hatte, und um all die Angst und Demütigung, die sie um dieses toten Kindes willen ertragen hatte. Vielleicht weinte er auch, weil er zum ersten Mal in seinem Leben das schlummernde Talent seines Vaters, das Erbe eines Abenteurers, Charmeurs, Trickbetrügers und Fälschers, angewendet hatte, und es war für nichts und wieder nichts geschehen.
    Seine Hand zerknüllte das Pergament, das er gefälscht hatte. Dann erstarrte sie plötzlich. Er legte das Knäuel wie in Trance auf sein Knie und strich es glatt. Das Siegel des Oberstlandrichters war gebrochen, aber nicht abgefallen. Er las den Text, den er selbst geschrieben hatte. Er sah zum Guckloch hoch. Die Oberin wollte es gerade zuschieben.
    »Warten Sie«, sagte er atemlos. »Warten Sie.«
    2
    Buh kniete erneut im Gebet versunken, als Pavel sich zu ihm gesellte; nur kniete er diesmal nicht vor einem Massengrab, sondern in einer Seitenkapelle der Nikolauskirche, und er sang nicht, sondern schwieg mit zusammengepressten Kiefern. Pavel schob die Frage beiseite, ob es etwas zu bedeutenhatte, dass die Kirche, in der sie Zuflucht gesucht hatten, um den Rest des Tages totzuschlagen, dem heiligen Nikolaus geweiht war, dem Schutzpatron der Kinder; oder dass die Kirche ursprünglich von deutschen Kaufleuten erbaut worden war. Wenn der Heilige seine Aufgabe ernst nahm, würde er Pavel und Buh heute scheitern lassen.
    Pavel kniete neben Buh nieder und betete ebenfalls. Seine Gedanken waren verwirrt, und es gelang ihm kaum, bei der Sache zu bleiben. Er hörte sein Herz pochen, aber ein anderes Geräusch hörte er noch viel lauter: das geduldige Vibrieren der Teufelsbibel. Ihm war, als befände sich ihr Versteck in seinem Inneren, und die Ketten um die Truhe herum glühten und verbrannten seine Eingeweide. Vage kam ihm zu Bewusstsein, dass er den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen und keinen Schluck Wasser getrunken hatte. Der dumpfe Druck in seinem Magen ließ nicht zu, dass er

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