Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
doch noch gar nicht Ihren Tee getrunken.«
Er zog die erste Seite aus dem Umschlag, um die Überschrift zu lesen: Die Überfahrt.
Ihm fiel sofort auf, dass es sich um einen mit einem Laserdrucker erstellten Ausdruck handelte. Offensichtlich hatte sie einen Laptop dabei, und Trudi, die Gastwirtin, hatte ihr erlaubt, den Drucker im Büro des »Ankerhofs« zu benutzen.
»Wirklich, ich muss jetzt los. Bitte.«
»Okay. Ich lese es später.« Viktor schob mit fahrigen Händen das Blatt wieder zurück in den Umschlag. »Und bevor Sie jetzt aufstehen, muss ich mit Ihnen über gestern …« Er hielt mitten im Satz inne, als er Anna ansah.
Sie blickte nervös an die Zimmerdecke und hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Sie hatte sich definitiv verändert. Irgendetwas schien in ihrem Inneren zu wüten und wollte an die Oberfläche. Alles in ihm drängte ihn, sie nach der letzten Nacht zu fragen. Ob sie ihn besucht hatte. Und warum sie in Bezug auf ihren Namen log. Aber jetzt scheute er sich, sie in ihrem derzeitigen Zustand noch mehr aufzuregen. So drängend diese Fragen auch waren, Anna war immer noch seine Patientin. Er wollte jetzt keinen schizophrenen Schub bei ihr auslösen. Und der Arzt in ihm gebot, sich endlich damit auseinander zu setzen, weswegen sie eigentlich zu ihm gekommen war: ihrer Schizophrenie.
»Wie lange wird es noch dauern?«, fragte er sie sanft.
»Bis zu meinem Anfall?«
»Ja.«
»Einen Tag? Zwölf Stunden? Ich weiß es nicht. Die ersten Anzeichen sind schon da«, antwortete sie mit schwacher Stimme.
»Die Farben?«
»Ja. Alles erscheint mir auf einmal bunter auf dieser Insel. Die Bäume sind wie mit Lack angemalt, das Meer ist tiefdunkel glänzend. Die Farben sind trotz des Regens so intensiv und leuchtend, dass ich die Augen nie mehr schließen will. Und noch etwas ist anders. Der Geruch. Ich nehme den salzigen Duft der Gischt viel deutlicher wahr. Über der Insel liegt ein herrliches Parfum, und nur ich bin imstande, es zu riechen.«
Viktor hatte es geahnt, war aber alles andere als erfreut. Anna war vielleicht gefährlich. Aber sie war unübersehbar krank. Bald würde er mit einer schizophrenen Patientin auskommen müssen, die kurz vor einem halluzinogenen Schub stand. Abgeschottet und allein auf dieser einsamen Insel.
»Hören Sie schon Stimmen?«
Anna nickte. »Noch nicht. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Bei mir ist alles wie im Lehrbuch. Erst kommen die Farben, dann die Stimmen und schließlich die Visionen. Wenigstens muss ich mir bei dem kommenden Schub keine Sorgen machen, dass Charlotte mich wieder quält.«
»Wieso nicht?«
»Weil Charlotte nicht mehr wiederkommt. Sie wird nie mehr wiederkommen.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Lesen Sie, was ich geschrieben habe, dann …«
Viktor hörte ihre letzten Worte nicht mehr, da sie vom Telefonklingeln übertönt wurden und Anna mitten im Satz innehielt.
»Was ist mit Charlotte?«, fragte er unbeirrt.
»Gehen Sie ran, Dr. Larenz. Ich hab mich schon daran gewöhnt, dass man Sie immer dann anruft, wenn ich bei Ihnen bin. Außerdem will ich jetzt sofort nach Hause.«
»Nein. Noch nicht. Ich kann Sie so nicht gehen lassen. Sie stehen kurz vor einem Zusammenbruch. Sie brauchen Hilfe.«
Und ich brauche Informationen. Was ist mit Charlotte?
»Warten Sie wenigstens, bis ich das Gespräch beendet habe«, forderte Viktor sie auf. Anna starrte auf den Fußboden und rieb sich nervös mit dem Zeigefinger über den Nagel ihres rechten Daumens. Viktor sah, dass das Nagelbett bereits ganz wund war von der nervösen Überreaktion.
»Gut. Ich bleibe«, willigte sie schließlich ein. »Aber sorgen Sie bitte dafür, dass dieses schreckliche Klingeln endlich aufhört.«
30. Kapitel
E r nahm den Telefonhörer in der Küche ab.
»Na, endlich. Hör mir zu, es ist etwas Unglaubliches passiert!«, begann Kai ungeduldig das Gespräch.
»Gleich«, flüsterte Viktor und legte den Hörer auf die Arbeitsplatte neben dem Spülbecken. Dann zog er sich seine Hausschuhe aus und schlich barfuß zurück durch die Diele, während er so tat, als telefoniere er gerade.
»Ja, ja … hm. Ist gut … Mach ich.«
Zufrieden sah er durch den Türspalt, dass Anna sich nicht vom Fleck bewegt hatte.
»Okay, was gibt’s?«, fragte er, als er wieder zurück in der Küche war.
»Ist sie wieder bei dir?«
»Ja.«
»Hatten wir nicht eine Verabredung?«
»Sie ist unangemeldet gekommen. Ich konnte sie schlecht rausschmeißen, bei dem Orkan, der hier
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