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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Swastika eingraviert und mit leuchtenden Farben bemalt waren. Auf den ältesten Steinen waren noch Tiere sichtbar, und manchmal auch Darstellungen von geheimnisvollen Wesen, halb Mensch, halb Tier. Zum Kloster führte ein Weg den Hang hinauf; er wurde von solchen Mam-Steinen gesäumt. Sie begrenzten einen heiligen Bezirk, den böse Geister nicht betreten durften. Die Schutzmauer bildete gleichzeitig den ersten Absatz des vierstöckigen Kostergebäudes. Die getünchten Mauern leuchteten in der heiligen Farbe karminrot. Bärenschädel, Geweihe und Hörner schmückten die Dächer und gemahnten an den uralten Pakt der Menschen mit dem Tierreich. Im Herzen der Kapelle erhob sich der Matreya, der Buddha der Zukunft. Die Statue war zwölf Meter hoch; ihr Antlitz lächelte rätselhaft und heiter wie ein Versprechen auf ferne, glückliche Zeiten. Von ihrem vergoldeten Sockel aus blickte sie auf die Pilger herab.
    Auf der anderen Seite der Tempelanlage befanden sich die Medizinschule, die Bibliothek und die Druckerei. Neben diesen Räumen gab es eine Anzahl größerer Küchen, die Vorratskammern und die Getreidespeicher, die Schwitzbäder und die Stallungen für die Tiere. Vom Tempel aus führten nur ein paar Schritte zu den Residenzen der Äbte und der hohen Lamas sowie zu den Schlafstellen der Mönche. Alle Elemente dieses gewaltigen Bauwerkes waren durch enge Gassen und steile Treppen verbunden; und in diesem Labyrinth, in dieser Stadt in der Stadt, drängten sich zu Losar Tausende von Menschen.
    Am zweiten Tag der Feierlichkeiten bildeten die Tänze im Innenhof des Klosters einen Höhepunkt der Zeremonien. Ich wollte die Tänze nicht verpassen. Schritt für Schritt erklomm ich im Gedränge die Stufen. Es gelang mir wie in jedem Jahr, durch die Menge der Zuschauer bis in die erste Reihe zu schlüpfen. Die Tänzer trugen einen Dreispitz als Kopfputz. Die eine Hälfte ihrer Masken war weiß, die andere schwarz. Weiß ist die Farbe der Verklärung, der Wiedergeburt; Schwarz die Farbe der Meditation und gleichzeitig jene der fruchtbaren Erdtiefen. Beide Farben stellen Himmel und Erde dar, die Hochzeit des alten und des neuen Jahres.
    Auf Rücken und Schultern der Tänzer glitzerten Umhänge aus schweren Brokat. Ein netzartiger Rock aus elfenbeinfarbenen Ketten 308
    bewegte sich klappernd bei jeden Schritt. Diese Ketten waren aus Menschenknochen geschnitzt, sie stellten die Fortpflanzung dar, die Schöpfung, die niemals endet. Sie sind das Wesentliche, der Sitz der Seele und gleichzeitig das Symbol der Askese, der sich die Mönche unterwerfen, um Erleuchtung zu erlangen. Nun stellten sich die Tänzer in der Mitte des Hofes auf, verneigten sich gegen den Estrade des Abtes. In der rechten Hand hielten sie einen Donnerkeil, das Symbol der Männlichkeit, des Blitzes und der dreifachen Zeitepochen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die Bronzeglocke in der linken Hand war weiblich; sie ist Sinnbild der universalen Harmonie, aber auch der Scheinwelt, da der Glockenklang verweht.
    Die sich ergänzenden Instrumente stellen das Wissen dar; ihr Klang vermittelt zwischen Lebenden und Toten.
    Das erste, was ich vernahm, waren die Trommeln. Fast im gleichen Augenblick rollte eine Klangwelle über den Platz. Die Mönche hatten ihre Lippen an die hölzernen Mundstücke der Sangdung gelegt. Die aus mehreren Röhren bestehenden Hörner mit ihren gewaltigen Schalltrichtern waren so lang, daß sie einige Schritte von den Musikern entfernt auf dem Erdboden ruhten. Die Trommeln rasselten, die Kupferglocken schlugen, als eine Gruppe dämonischer Fratzen, mit Hörnern und Stoßzähnen versehen, über den Platz wirbelte. Die Zuschauer stießen Schreie gespielten Entsetzens aus; sogar ich verzog leicht das Gesicht, als der rußgeschwärzte König der Dämonen mich mit seinen Fellen streifte. Der Tanz wurde vom Klang der Kanglins geleitet, mit Leder und Messing eingefaßten Flöten. Andere Masken gesellten sich hinzu; sie waren beim Volk sehr beliebt, stellten die Geister der Vegetation und der Tierwelt dar.
    Die Tänzer trugen Felle und Gewänder aus schillerndem Brokat. Ihre hölzernen Tiermasken waren bemalt und vergoldet. Nacheinander erschienen Hirsch, Wolf, Fuchs, Adler, Affe und Hase, von den Zuschauern mit Gelächter und fröhlichen Zurufen begrüßt. Die Tänzer trieben allerlei Possenspiele, schlugen Purzelbäume, schüttelten Glocken. Dann brachten vier maskierte Novizen ein großen Blatt Papier aus Pflanzenfasern herbei. Ein Mönch hatte

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