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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Mein Herz schlug wild.
    »Amla, werden die Chinesen kommen?«
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    Sie seufzte tief.
    »Ja, Atan. Schon bald. Die Knochen haben es gesagt.«
    Prahlerisch, wie Knaben oft sind, entgegnete ich heftig:
    »Ich fürchte mich nicht! «
    Sie hatte die Arme verschränkt, als ob sie fröstelte.
    »Du bist mein Sohn. Es wäre schlimm, wenn du dich fürchten würdest. Du wirst ein klares Auge brauchen und eine sichere Hand.
    Du wirst einen einzigen Pfeil haben, und der muß treffen.«
    Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Nur einen einzigen Pfeil?«
    Sie nickte. Das Feuer wärmte, und trotzdem schien sie zu frieren.
    Ihre Stimme klang seltsam heiser.
    »Die Knochen sagen, so wird es sein. Du darfst den Mut nicht verlieren! Gib mir dein Versprechen, Atan! «
    Ich öffnete den Mund; da gab es unzählige Fragen, die ich in Worte hätte fassen können, wären nicht die schwarzen Augen gewesen, die so starr in die meinen blickten. Ich fühlte den entsetzlichen Schmerz in ihrem Inneren. Der Schreck ging mir durch und durch. Es war, als sinke Dunkelheit auf mich herab. Kalter Schweiß bracht mir aus allen Poren. Ich stammelte:
    »Ich… ich verspreche es dir.«
    Da seufzte sie tief und wie erlöst.
    »Es ist gut. Ich danke dir, Kind. Das ist alles, was ich sagen kann.
    Sei ohne Furcht. Dein Schutzgeist wacht. Er wird meinen Feind durch den Nebel tragen; die Bäume werden seine Knochen zerreiben und die Dornen seine Leber in Fetzen reißen… «
    Ein eiserner Ring schien meine Schläfen einzuschnüren. Die Finger meiner Mutter, die meine Stirn berührten, waren eiskalt. Die Kraft, die in ihr lebte, war zu stark für mich. Es war die Kraft der wachsenden Bäume und des wirbelnden Schnees, die Kraft der ziehenden Wolken und der wandernden Sterne. Es war die Kraft des Lebens.
    Ein beißender Frostwind fegte über die Dächer. Er trug Schneegeruch in sich. Lange vor der Morgendämmerung war die Steppe weiß und der Himmel schwarz und tief. Es war Februar; der Neumond wuchs. In zehn Tagen würde das Neujahrsfest beginnen.
    306

38. Kapitel

    K urz vor Neujahr zogen lange Kolonnen von Lastwagen, Panzern und marschierenden Soldaten auf Lithang zu. Das Kampfgebiet dehnte sich aus, die Frontlinie rückte näher.
    Obwohl auf das Neujahrsfest dunkle Schatten fielen, nahmen die Vorbereitung ihren üblichen Verlauf. Die Bevölkerung schrubbte mit nassen Besen die Trittsteine, kehrte jeden Unrat weg. Die Mönche bestiegen Gerüste, um Wasserspeier, Fenster und Dachterrassen zu reinigen. Sie befestigten neue Gebetsfahnen, schmückten Tempel und Heiligtümer. Die Waffenruhe, die vereinbart worden war, hatte sich herumgesprochen, und die Nomaden kamen von weither. Bald wimmelte es in Lithang von Menschen; zu Losar kamen sie in so großer Zahl, daß es unmöglich war, für alle einen Platz zum Schlafen zu finden. Die Pilger mußten ihre eigenen Jurten unterhalb der Mauern des Klosters aufstellen. Die Nomaden ritten auf Mauleseln oder auf prächtig herausgeputzten Pferden; der drohende Krieg konnte nicht ihre Freude an schönen Sätteln und kostbar bestickte Satteldecken trüben.
    Sie trugen ihre schönsten Kleider, doch auch ihre besten Waffen.
    Dolche und Säbel funkelten, und in den silbernen, leise klingenden Brustamuletten spiegelte sich die Wintersonne. Horden von kläffenden Hunden folgten den Reitern, schnappten nach den Beinen der Maultiere.
    Straßenhändler boten ihre Ware feil. Geruch von Siedefleisch, brennendem Kuhmist und Gewürzen erfüllte Treppen und Gassen.
    Alle Menschen wollten das Kloster besuchen und beten, viel Butter und Weihrauch spenden, um das Böse zu bannen; aber sie wollten sich auch vergnügen, Waren verkaufen, die rituellen Tänze bewundern, essen und trinken und an Wettspielen teilnehmen.
    Lithang war erfüllt von Stimmen und Gelächter, von Glockengebimmel und dem Rasseln der Gebetszylinder. Zum erstenmal waren mir die Farben, die Geräusche nicht lieb und vertraut; ich nahm sie wie ein fremdes Schauspiel wahr, und meine Haut prickelte. Ich schlief sehr unruhig in dieser Zeit; nachts sang und pfiff der Wind ums Haus. Und ich hörte die Stimme meiner Mutter, die schlafend vor sich hin summte oder Worte sprach, die ich nicht verstand.
    Das Kloster von Lithang war – wie nahezu alle tibetischen Klöster 307
    – eine Festung. Die Stadtmauer war in regelmäßigen Abständen mit Wachtürmen versehen. Unter der Mauer lagen Tausende von Steinen, in denen die heiligen Worte Om Mani Padme Hum, Abbildungen des Buddhas oder der

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