Die Tibeterin
gleichen Tages ritt ich mit Sonam aus Lhasa fort. Sie jedenfalls habe ich retten können.
Und später auch ihr Kind - unterwegs. Es war ziemlich heikel, ich bin keine Hebamme. Trotzdem bilde ich mir etwas darauf ein, es geschafft zu haben…
Es tut mir leid, Tara, es war eine lange Geschichte. Dabei macht sie nur einen Bruchteil meines Lebens aus.«
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»Und das andere?«
»Erzähle ich dir später. Hast du keine Angst, mit mir zu reisen?«
»Das hättest du früher fragen sollen.«
Er grinste.
»Warte, laß mich das Feuer schüren. Ich muß dir etwas zeigen.«
Er entfachte die Glut in seiner schnellen, geschickten Art. Als die Flammen hell loderten, zog er ein kleines Paket aus seiner Brusttasche. Das Päckchen war in Plastik eingewickelt und durch ein kräftiges Gummiband zusammengehalten. Ein kleines Etui mit Drehbleistift und Kugelschreiber gehörte dazu. Zum Vorschein kam eine auf Millimeter gezeichnete Landkarte von Tibet. In der Mitte, schön zusammengefaltet, steckte eine Kinderzeichnung. Sie zeigte ein Mädchen auf einem Pferd, eine heitere Darstellung, wie Kinderaugen solche Figuren sehen, halb Wirklichkeit, halb Phantasie. Kunsang war wohl völlig bei der Sache gewesen, ganz vertieft, ihre Arbeit hatte sie sicher ganz ausgefüllt; die Zeichnung drückte Lebendigkeit, aber auch eine starke Intensität des Gefühls aus.
»Ich verstehe…«, seufzte ich. »Und was hast du noch, Atan?«
Er breitete die Landkarte auf dem Boden aus, glättete sie mit der flachen Hand.
»Sie ist im Maßstab 1:200.000. Kennst du dich aus?«
»Nicht besonders. Hast du die gezeichnet?«
»Sowas lernt man bei der Army. Das war keine verlorene Zeit.«
Ich sah mir die Karte genauer an. Berge und Flüsse, Seen und Städte waren akkurat eingetragen, mit Markierungen in verschiedenen Farben bezeichnet. Ich hob fragend die Brauen. »Atomraketen?«
»Richtig. Die Standorte sind rot eingekreist. Sie hängen direkt vom
»Neunten Büro« ab, in dem die Fäden des gesamten chinesischen Nuklearprogramms zusammenlaufen. Die Zahl der Mittelstreckenraketen beträgt weit über hundert. Sie sind auf alle Arten von Zielen ausgerichtet und jederzeit einsatzbereit. Die Kommandozentren sind in unterirdischen Bunkern untergebracht.«
Ich schluckte.
»Was bedeuten die anderen Markierungen?«
»Die Kreuze bezeichnen Kernkraftwerke und Deponien nuklearer Abfälle, die Dreiecke Uran-Vorkommen. Die bei Lhasa sind die größten der Welt. Die Testfelder für Giftgase und bakteriologische Waffen sind mit Gelb markiert. Die Zahl der Krebskranken und der mißgebildeten Kinder taucht in keiner Statistik auf. Ich habe ein paar 399
Untersuchungen gemacht. Die Tendenz steigt jährlich um mehr als 25 Prozent.«
Ich spürte, wie mein Gaumen kalt wurde.
»Du bist ein gefährlicher Mann, Atan.«
Fältchen zeigten sich in seinen Augenwinkeln.
»Habe ich jemals das Gegenteil behauptet?«
»Du bist ein Spion.«
»Kann man sagen, ja.«
»Ist das Risiko, geschnappt zu werden, nicht groß?«
»Eins zu hundert.«
»Und wenn sie dich erwischen?«
Er verzog das Gesicht.
»Die Gefahr hindert mich nicht daran, das zu tun, was ich im Sinn habe.«
»Und was hast du im Sinn?«
Sein Lächeln verschwand, während er die Karte akkurat zusammenfaltete und mit der Zeichnung in die Hülle steckte. »Zu wissen, wo der Feind seine Waffen lagert, interessiert nicht nur mich, sondern auch das amerikanische Außenministerium. Die neuen Satellitensysteme überwachen jeden Quadratmeter Erde. Der Himmel ist voll davon, Asien ist komplett vernetzt. Das Ziel der USA ist nach wie vor, Chinas Aufstieg zu bremsen. Das ist gut für uns, bringt aber kurzfristig nichts. Denn inzwischen nützt China die jährlich erneuerte Mehrbegünstigungsklausel für seine Exporte in die Vereinigten Staaten, baut seine Waffenarsenale aus und spielt auf Zeit. Ich liege seit zehn Jahren mit der Nase im Dreck und sammle Informationen. Aufklärungsinstrumente können das besser und schneller. Das Problem ist nur, woher bekommen wir die Aufnahmen? Das Pentagon rückt damit nicht raus. Folglich muß man auf antiquierte Methoden zurückgreifen. Es ist nur eine Frage der Geduld, aber davon habe ich viel.«
»Atan, bist du verrückt? Es ist unglaublich! Wozu machst du das?«
»Für die USA ist ein Atomkrieg in Asien ein eingeplantes Risiko; durchaus zumutbar, solange keine Ölquellen im Spiel sind. Ich bilde mir ein, daß sich mit der Karte – so stümperhaft sie sein mag – etwas machen
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