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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Ärztin, Chodonla, ich will dir helfen.« – »Du kannst mir nicht helfen. Laß mich, es ist zu spät.«
    Die Wirklichkeit rückte näher. Und die Häßlichkeit. Sie kam von außen, sie hatte sich dieses Ortes bemächtigt: Überall wurde gebaggert; Lhasa widerhallte vom Bohren und Hämmern, vom Hupen, Surren, Klirren und Scheppern. Auf einem kahlen Platz prangte als Dekoration eine alte, verrostete Mig. Zeitgenössische Kunst, dachte ich höhnisch. Die Mode war chinesisch: Kniestrümpfe aus Nylon, Schuhe aus Plastik, Mützen der amerikanischen Rapper, verkehrt herum getragen und made in Hongkong. Chinesische Spielsalons. Chinesische Kneipen. Chinesische Restaurants. Ein chinesisches Theater, ein chinesisches Kino. Dies war jetzt eine chinesische Stadt. Die Stimmen waren sehr laut; Chinesisch ist eine Sprache, die geschrien wird. Wir wurden einbezogen in das pausenlose Kommen und Gehen, in das Dröhnen und Tosen und Geschrei. Lhasa liegt in 3770 Meter Höhe und stank entsetzlich. Und darüber der Himmel, wolkenlos jetzt, ein Himmel aus blauem Kristall, schwindelerregend, atemberaubend, ewig.
    Wir führten unsere Reittiere am Zügel. Wir fielen nicht auf; wir waren Pilger. Die Zahl der Pilger ging in die Tausende. Die meisten waren Nomaden, vorwiegend alte Männer und Frauen. Manche konnten sich kaum noch dahinschleppen. Ihre braungebrannten Gesichter glänzten wie staubiges Kupfer. Schwester ihrer Not, teilte ich ihre Sehnsucht zu der Vergangenheit, ihre verzweifelte Liebe zu einer neu aufgebauten Stadt, die im Sterben lag…
    Atan führte mich in eine Herberge; er ließ mich allein, während er die Pferde versorgte. Er wußte, bei wem er sie unterbringen konnte.
    Wie vorauszusehen, war Chodonla zu dieser Zeit schon im Amy. Er wollte ihr mitteilen, daß ich da war.
    »Schonend«, hatte ich gesagt.
    Er hatte unfroh gelächelt.
    »Ich verstehe schon.«
    Er ging, und ich blieb allein in einer Zelle ohne Fenster, mit billigen Rollbildern geschmückt. Die Staubschicht auf dem 426
    Lehmboden war frisch gefegt worden. Im Zimmer standen zwei Bettgestelle aus Eisen, ein wackeliger Tisch, zwei Stühle, ein Messingkrug, eine giftgrüne Plastikschale und zwei Becher. Die Matratze hatte Flecken, die Decken stanken nach Chlor, auf dem zerknitterten Kopfkissen klebte ein Haar, das nicht von mir war. Ich warf meinen Schlafsack auf das Bett. Das Wasser lief aus einem Wasserhahn im Hof. Eine Frau saß dort, rieb Wäsche in der Plastikschüssel und schlug sie auf einen Stein. Sie grüßte verhalten, als ich zur Toilette ging. Das WC war ein Holzbau, mit ein paar Löchern. Ich füllte Wasser in den Krug, wusch mich in der Zelle, über der Schüssel. Ich holte meinen kleinen Spiegel aus der Tasche.
    Mein Gesicht war braungebrannt, mit Ringen unter den Augen, die Lippen waren aufgesprungen. Ich cremte mich ein, mit Niveacreme.
    In meinem Haar knirschte Sand. Ich sehnte mich nach einer heißen Dusche. Chodonla hat ein Badezimmer, hatte Atan gesagt. Ein Seufzer entfuhr mir. Vielleicht konnte ich bei ihr mein Haar waschen, ein Bad nehmen. Ich legte mich auf meinen Schlafsack.
    Mir war kalt. Ich zog einen Pullover an.
    Die Herberge hatte ihre vielfältigen Geräusche: Seufzer, Schnarchen, Wimmern, Lachen, das Schlurfen vieler Schritte, das Knarren der Bettfedern, ein gleichmäßiger, unaufhörlicher, intimer Lärm. Hier lebten die Pilger in enger Gemeinschaft; es war, als ob mich nichts von den anderen trennte. Jeder Luftzug, der durch die Ritze der Tür drang, brachte den Geruch nach Stoff, schmutziger Baumwolle und Bratfett. Ich spürte eine merkwürdige Müdigkeit, eine Lethargie, die mir die Augen schloß. Ich lag mit dem Blick zur Decke, mein Herz klopfte dumpf und schnell. Ich fühlte mich wie eine Unbekannte, kam mir ferner und unbegreiflicher vor als alle Fremden, die neben mir sprachen, lachten oder schliefen. Warum war ich hier? Welches Ziel hatte ich, das ich mit solcher Hartnäckigkeit verfolgte? Chodonla? Ich streckte in Gedanken die Arme nach ihr aus; doch sie wich zurück, wie das Antlitz im Wasser, nebelhaft, kalt, in alle Ewigkeit unerreichbar.
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54. Kapitel

    E ine Hand rüttelte mich an der Schulter. Ich schlug die Augen auf.
    Die Glühbirne brannte. Ein Schatten streifte über die Wand. Atan.
    Die rostigen Federn knarrten, als er sich neben mir auf der Bettkante niederließ. Ich hob den Kopf.
    »Ach Atan, es tut mir leid, ich bin eingeschlafen.«
    Er sah mich an, saß ganz still, ich hörte ihn nicht einmal

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