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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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im Tiefflug. Hier oben war der abgeholzte Berg fast kahl; er war zum Reich der Schatten, der Einsamkeit geworden. Die Erosion hatte brutale Spuren hinterlassen. Spalten und Rillen gruben sich tief. Oft sah es aus, als habe der Berg, in tausend Stücke zersprungen, seine Splitter in weitem Umkreis verstreut. Über flache Lehmhäuser wehte Rauch, blau wie Kornblumen, auf den Dächern stapelten sich Gestrüpp und Wurzeln als Brennholz. Die Chinesen schlugen die Berge kahl, aber die Straße entlang pflanzten sie Bäume an und schichteten um jeden Baum eine Mauer auf, zum Schutz vor Ziegen oder Yaks. Die Touristen wollten Bäume sehen, das hatten auch die Behörden begriffen. Vereinzelte Pappeln standen schief im Wind, die letzten Blätter der Birken schimmerten wie blasser Honig.
    Magere Esel grasten am Rande der Felder. Oft trafen wir kleine Steinhügel, auf denen Gebetsfahnen wehten. Die Sonne hatte sie ausgebleicht, der Wind zerschlissen. Nie unterließen wir es, einen Stein aufzulegen, um die Berggeister zu ehren. Hier und da wuchsen die Ruinen alter Klöster aus der Erde. Die Rotgardisten hatten die goldenen Statuen geschmolzen, das Holz aus den Mauern gezogen, mit Hammer und Spitzenhacke jede Burg dem Erdboden gleichgemacht. Die Luft war von Leid getränkt. Aus kalten Tiefen emporsteigend, auf den Schwingen des Windes getragen, schwärmten Totengeister über die Ruinenfelder. Im Dunkeln meines Herzens hörte ich ihre Schreie und fröstelte.
    Eine eiserne Hängebrücke überquerte den Kyutschu, seinen 424
    ausgeschwemmten Talgrund. Das lehmigbraune Wasser schäumte.
    Und jenseits der Hügel lag Lhasa.
    In meiner Erinnerung, in meinen Träumen, flimmerten unscharfe Bilder. Wann hatte ich diese Dinge gesehen? Als ich ein Kind war?
    Früher? Jeder Mensch trägt solche Traumstücke in sich, Bilder aus einer entfernten Vergangenheit, aus dem Gedächtnis der Ahnen.
    Sicherlich waren diese Bilder den Erzählungen meiner Eltern nachempfunden; kaum etwas in Tibet kam mir wirklich fremd vor.
    Es gibt eine Schwelle in uns, jenseits derer das, was wir heute sind, ihren Ursprung nimmt. Zu diesem Ursprung kehrte ich jetzt zurück.
    Zu meiner Kindheit, zu den Vorfahren, zu Chodonla.
    Durchsichtig und weit glänzte der Himmel; vereinzelte Wolken glitten über die Hügel, bleifarbenen Walen gleich, die im Blau des Himmels wie in einem Ozean schwebten, nach Lhasa.
    Den Potala hatte ich auf Tausenden von Abbildungen gesehen.
    Doch auch in meinem Herzen hatte ich sein Bild bewahrt. Und genau so erblickte ich ihn jetzt in seiner Größe, seiner Harmonie. Und darüber das Eis in den Höhen mit dem Leuchten von reiner Helle und unbegreiflicher Macht. War es das Licht der Sonne oder die blaue Luft, oder formte ich selbst ein Bild, das meiner Erinnerung entsprach? Oder mischte ich alles, diesen Augenblick, meine Geschichte? Der Palast hatte seine Seele eingebüßt, seinen Atem verloren, er war nur noch ein Museum, von Touristen besucht, und für jedes Foto mußte gezahlt werden. Die Mönche lebten in Armut, die Behörden kassierten das Geld. Tibets Götter lebten im Exil, fernab auf den Berggipfeln, weit weg vom Geschrei der Menschen.
    Unter dem Potala lag die Stadt, von Verkehrsströmen und Lärm erfüllt; Reihen neu erbauter Wohnblöcke, mit Rauhputz versehen, Fenster wie leere Höhlen, Schrottplätze, Fabriken, bläuliche Wolken aus Abgasen und Ruß. Das maßlos Zerstörerische dieser erstickenden Häßlichkeit hatte ich geahnt; sie traf mich trotzdem wie ein Schlag ins Gesicht. Manchmal erkannte ich Blickpunkte, an denen ich, schien mir, schon einmal gewesen war. Aber alles blieb voneinander getrennt, auseinandergerissen. Als ob ich von Orten träumte, an denen ich schon gewesen zu sein glaubte, und die es in Wirklichkeit nicht gab. Hier also lebst du, Chodonla. Du plauderst und trinkst mit deinen Peinigern, du lieferst dich ihrer Gier aus, du spuckst Blut. Du bist eine Heldin. Ich weiß kaum etwas von dir, Chodonla. Ich sehe dich nur in Atans Augen. Wer bist du? Auch die Kraft des Erinnerns läßt nach, die Umrisse werden unsicher. Es wird 425
    seltsam sein, dir zu begegnen, mich selbst in dir wie in einem Spiegel zu sehen. Vielleicht sind wir jetzt zu verschieden? Zwei Fremde nur, die ungeschickte Worte tauschen, fast gleichzeitig, leise, eine nie geübte Wechselrede: »Bist du es, Chodonla? Bist du es wirklich?« – »Ja, ich bin es. Ich erkenne dich: du bist Tara. Du hättest nicht kommen sollen. Warum bist du hier?« – »Ich bin

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