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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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atmen.
    Dann sagte er:
    »Da stimmt etwas nicht.«
    Ich richtete mich auf.
    »Was ist los, Atan?«
    Er antwortete in seiner gewohnten Art, nachdenklich und leise:
    »Chodonla war nicht im Amy. Ich habe ein Glas getrunken und bin gleich wieder gegangen. Irgendetwas gefiel mir nicht.«
    Ich holte tief Luft. Sachte, unmerklich, erfaßte mich Furcht. Die Dinge geschahen, ohne daß ich etwas anderes tun konnte, als sie geschehen zu lassen. Atan fuhr fort:
    »Ich kenne das von früher. Ich merke, wenn etwas faul ist. Und dann bin ich sehr vorsichtig.«
    Ich starrte ihn an. Wahrscheinlich sah ich geistesabwesend aus. Er sprach weiter.
    »Ich bin an Sun Lis Wohnung vorbeigegangen. Alles war wie sonst… Alles, bis auf eine Einzelheit… «
    Ich rührte mich nicht. Er hielt die Augen unverwandt auf mich gerichtet.
    »Die drei Blumentöpfe«, sagte er.
    Ich befühlte mein Gesicht mit den Händen. Was redete er sich da zusammen?
    »Die Blumentöpfe?« murmelte ich.
    Er nickte.
    »Sie stehen nicht mehr vor dem Fenster.«
    Plötzlich überlief mich eine Gänsehaut.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    Er stand auf. Die Bettfedern schnellten quietschend hoch.
    »Nichts Gutes, fürchte ich. Sie liebte ihre Blumen.«
    Er nahm den Krug, goß Wasser in einen Becher.
    »Sie wohnt nicht mehr da.«
    Er leerte den Becher, wischte sich mit dem Handrücken über die 428
    Lippen. Ich verschränkte fröstelnd die Arme.
    »Und was nun, Atan?«
    Er betrachtete mich im Schein der Glühbirne, die an einem Stück Kabel an der rissigen Decke hing.
    »Chodonla hat ihr Zimmer im Shöl-Viertel behalten. Sie wollte ein Dach über dem Kopf haben, für den Fall, daß Sun Li seine Dienstwohnung aufgab.«
    Meine Handflächen wurden feucht.
    »Glaubst du, daß sie da ist?«
    »Ich hoffe es«, sagte er finster.
    Ich schwang die Beine aus dem Bett, zog meine Socken an und stellte die Füße auf den Lehmboden.
    »Komm, laß uns hingehen!«
    Es war früher Nachmittag; zu dieser Zeit war Markt. Auf dem Weg zum Barkhor-Platz liefen wir an Hunderten von Geländewagen, Bussen, Fahrrädern und Motorrädern vorbei; alle Straßen waren verstopft, aus jedem chinesischen Laden klang Discomusik aus Hongkong. Frauen und Männer trugen Kisten, balancierten Körbe, schoben Handwagen. In einer Gasse kauften modisch gekleidete Tibeterinnen Butter, die Nomaden in Schläuchen aus Yak-Därmen anboten. Nepalesische Straßenzahnärzte hatten ihre Instrumente auf einem Tuch ausgebreitet. Auf dem Fleischmarkt waren alle Schlachter nach wie vor Moslems, denn Tibetern ist das Töten jeglicher Lebewesen nicht erlaubt. Schweine ohne Kopf, halbe Schafe hingen an eisernen Haken an Holzgestellen. Die alten Häuser waren durch Feuchtigkeit und Moder ergraut, und im Erdgeschoß schienen kleine Läden mit ihrem üblichen Angebot an Plastikzeug das Innere zu sprengen. Soldaten in der grünen Uniform der Volksarmee schlenderten über den Markt. Auf den ersten Blick schienen es lauter junge Burschen zu sein; ich beobachtete sie verstohlen und bemerkte, daß sie sich benahmen, als ob Schauspieler eine Show für sie veranstalteten; sie riefen einander zu, steckten die Köpfe zusammen und grinsten. Einer von ihnen zeigte mit dem Finger auf einen uralten Mönch, der auf einer Kiste unter einem chinesischen Filmplakat saß. Er betete mit kräftiger, jugendlicher Stimme; sein Gesicht war ruhig, voller Falten. Sah er die Chinesen, oder sah er sie nicht mehr? Das Gefühl für Heimat stellt sich erst wieder ein, wenn wir Orte und Menschen wiedersehen, die ein Teil unserer Vergangenheit sind und all das verkörpern, was uns einmal lieb war. Hier sah ich nichts, was mein Herz berührte. Meine 429
    Wurzeln waren nicht mehr hier; die Chinesen hatten sie herausgerissen.
    Chodonla wohnte in einem kasernenartigen Betonblock, der dreistöckig um einen Lehmhof gebaut war. Jede Wohnung verfügte über einen schmalen Balkon. Einige Kinder spielten Fußball. Es roch nach Abgasen, Müll und Essen. Bevor wir in das Haus traten, warf Atan einen Blick ringsum; ein scharfer, wachsamer Blick, der alles erfaßte. Im Treppenflur war kein Licht, und auf jedem Absatz sechs Türen aus Kunststoff. Hinter den Türen schallten Stimmen, klapperten Töpfe, Kinder riefen, ein Säugling schrie. In dem Haus gab es keine Kanalisation, kein Wasser, keine sanitären Anlagen.
    Atan ging weiter, die Treppe hinauf. Drittes Stockwerk, wieder sechs Türen. Atan blieb vor einer Tür stehen und klopfte; er tat es schnell und leise, als ob er eine

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