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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Seine Stirn war heiß und trocken wie die eines Fieberkranken.
    »Laß sie nicht warten!« flüsterte er. »Sie ruft dich. Sie ist müde und krank.«
    Mein Atem stockte. Ich faßte seine Gelenke, die gebrechlichen Knochen unter der lockeren Haut.
    »Chodonla? Meinst du Chodonla?«
    Seine Stimme klang flach und heiser.
    »Du kannst ihr helfen… Jetzt noch, heute noch!«
    »Helfen?« murmelte ich.
    »Schnell!« keuchte er. »Folge ihm!«
    Atemnot hinderte ihn daran, weiterzusprechen. Er schnappte nach Luft. An seinen Schläfen klopfte der Puls ungleichmäßig und stürmisch.
    »Von wem redest du, Pala?«
    »Von ihm. Von dem Reiter. Du weißt doch, wer er ist…«
    »Wer, Pala? Ich verstehe dich nicht.«
    »Hier fragt niemand nach ihm. Und auch nirgends sonst. Du weißt ja, er ist schon lange tot. Erinnerst du dich? Er sah das rote Herz Buddhas und starb. Mit ihr. Als er sie tötete. Als sie starb und in seinem Geist wieder lebendig wurde. Sie ist jetzt dort. Ja, ja, er erzählte mir alles. Er konnte es nicht ungeschehen machen. Da rief er den weißen Yak und führte seine Rache zu Ende. Aber du kennst ja die Geschichte. Kommst du wieder? fragte sie ihn. Bald, war die Antwort. Jetzt sucht er einen Weg. Für ihn ist sie verloren, das ist Fügung. Jedes Tun offenbart einen neuen Zweck, eine neue Wirkung. Hast du Angst, Tara? Glaubst du, es ist sinnlos? Bedenke dies: Wo der Mensch ehrlichen Herzens ist, entsteht etwas Neues.
    Geh jetzt! Verlaß dich auf ihn! Du hast nur wenig Zeit, Kind – nur ganz wenig Zeit.«
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    Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Er gab meine Hände frei. Sein Gesicht war aschfahl geworden. Er senkte die Lider, und es war, als fiele ein Vorhang über die blassen Augen. »… schlafen! « murmelte er.
    Ich hielt ihn fest, als er taumelte. Lhamo machte ein entsetztes Gesicht. Amla gab ihr ein Zeichen, und sie führte den alten Mann behutsam aus dem Zimmer. Als sie gegangen waren, seufzte Amla tief. Ihr dunkelgoldenes Antlitz wirkte eingefallen. Ich sah ihre Augen feucht glänzen. Als sie sprach, klang ihre Stimme stockend.
    »Jetzt wird er Ruhe finden. Endlich.«
    Ich stand wie erstarrt. Ich konnte nicht glauben, was ich gehört hatte. In mir überstürzten sich die Gedanken. Wie sollte ich klar sehen, wenn sogar Tenzin vor einem Rätsel stand? Mir war schlecht.
    Geschichten wie diese brachten mich aus den Fugen.
    »Amla, wer ist der Mann, von dem er gesprochen hat?«
    Sie hob hilflos die Hände.
    »Ich weiß es nicht. Er sitzt da und redet mit ihm. Stundenlang.«
    Überdrehte Reaktionen, dachte ich. Ein neurotisches Temperament… Wahrscheinlich hing es mit meiner Reise zusammen.
    »Du meinst, er führt Selbstgespräche?«
    »So hört es sich jedenfalls an. Er stellt Fragen und gibt sich selbst die Antwort. Ich kann daraus keine Schlüsse ziehen. Du vielleicht?«
    Vor meinen Augen war eine Blindheit, wie nach dem Aufflackern eines Blitzes. Aber ich war entschlossen, nüchtern zu bleiben.
    »Er spricht mit einer imaginären Figur. Das kommt bei Gemütskranken vor. Was er braucht, ist Abwechslung. Geht spazieren!Fahrt in die Berge, er liebt doch die Natur.«
    »Er wird nicht wollen. Er arbeitet lieber im Garten.«
    Ich bewahrte meine Geduld, ich mußte doppelt behutsam sein.
    »Also gut. Er soll tun, was ihm Freude macht, das ist vermutlich das Beste. Und noch etwas, Amla: Wenn er morgen die Sache vergessen hat, ist es vielleicht besser, ihn nicht mehr daran zu erinnern. Verstehst du? Er soll sich nicht so aufregen. Das ist nicht gut, in seinem Alter.«
    Sie hielt die Augen auf mich gerichtet, ein langer dunkler Blick.
    »Ich verstehe.«
    »Es ist gleich elf«, sagte ich und knöpfte meinen Mantel zu. Ihre Brust hob sich in einem tiefen Atemzug.
    »Paß gut auf dich auf und geh mit Buddhas Segen.« Sie streckte 65
    beide Arme aus; ich barg das Gesicht an ihrer Schulter. Ich atmete ihren Geruch nach Weihrauch, warmer Suppenbrühe und Orangenschalen ein, den Geruch meiner Kindheit. Das Herz sank mir in den Magen. Ich fühlte mich verzweifelt und ratlos. Im Leben gibt es einen Bereich, den man lernen kann, und einen Bereich, der vielleicht nicht lernbar ist. Die Verbindung ist schwierig herzustellen. Pala hatte es geschafft, irgendwie. Er hielt Zwiesprache mit einem Phantom und war verwirrt von der Genauigkeit seiner Trugbilder. Da war etwas, das er sah, düster und mit verzweifeltem Vorwissen.
    Amla brachte mich an die Haustür. Sie drückte auf den Schalter.
    Die kleine Lampe am Gartentor ging an. Es war

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