Die Tibeterin
eiskalt; Schneeflocken wirbelten in der dunklen Luft. Wir küßten und umarmten uns ein letztes Mal. Der blasse Schein fiel auf Amlas Gesicht. In ihren Augen glänzten Tränen. Zwischen uns flackerte Chodonlas Bild wie ein Irrlicht, aber ihren Namen sprachen wir nicht mehr aus. »Dir bleibt nur wenig Zeit«, hatte Pala gesagt. Und ich erbebte vor Angst, daß es wahr sein könnte.
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8. Kapitel
D ie Lufthansa-Maschine war eine der letzten, die von Zürich aus im Direktflug nach Kathmandu ging. Ein paar Wochen später sollte die Flugroute eingestellt werden. Aus diesem Grund war das Flugzeug voll besetzt. Indische Beamte, Amerikaner, Schweizer, Japaner; Touristen zumeist, aber auch Geschäftsleute. Der Flug dauerte sieben Stunden. In Karachi – wo wir Zwischenlandung hatten – erlebte ich die Farben Asiens: ein helles, staubiges Beige, ein verwaschenes Rostrot; ich sah die flachen grauen Häuser, die Menschen mit ihrer olivfarbenen Haut, den dunklen Augen, dem schönen schwarzen Haar. Als sich das Flugzeug mit einer neuen Besatzung eine Stunde später erhob, wußte ich, daß ich jetzt in einer anderen Welt war – eine Welt, mit der ich mich auf verworrene Weise verbunden fühlte. Schon verblaßten die Erinnerungen an die Schweiz, verwandelten sich in Bilder, in diffuse Gefühle. Ich hatte einen Zustand erreicht, da alles weit weg und unverbindlich schien.
Es war ein Zustand, der mich auch von Roman trennte. In meiner Kindheit und auch später hatte ich selten darüber nachgedacht, was es hieß, Asiatin zu sein. Jetzt war es wieder da, dieses Gefühl, dieses plötzliche Wiederversinken in eine Vergangenheit, deren Bild ich in den Pupillen trug. Und gleichwohl war es ein beklemmendes Gefühl, das Vertraute so entfernt zu wissen und sich selbst so abgesondert, nur auf sich verwiesen. Hatte ich mich aus diesem Grund im letzten Augenblick entschieden, meine Zürcher Wohnung nicht aufzugeben?
Die Bank würde die Miete überweisen; später würde ich weitersehen.
Roman las ein Buch: »Einführung in die Grundlagen der tibetischen Religion«. Vorher hatte er andere Bücher gelesen, massenhaft Bücher, immer neue dazu. Manchmal rief er: »Du, ich glaube, ich habe etwas begriffen! « und las mir voller Begeisterung einzelne Passagen vor. Er ist wie ein Mensch, dachte ich, der mit der Lampe in ein hell erleuchtetes Zimmer tritt. Ich lächelte dazu, aber ohne Ironie, denn er war ernsthaft interessiert, wenn auch nur aus Eigennutz. Ich schlief viel auf dieser Reise, obwohl mir die Arme dabei steif wurden. Irgendwann weckte mich Roman. Ich blinzelte, öffnete die Augen. Die Maschine hatte an Höhe verloren, flog bereits über Nepal. Die ockergelbe flache Landschaft ging in wellige Täler über. Grüne Kuppen wölbten sich im Sonnenlicht. Und weit darüber 67
aufragend, langsam immer größer werdend, bauten sich die schneeweißen Giganten in den Himmel. Unendlich viele weiße Spitzen, ungeheuer, fast überirdisch. Berge über Berge.
»Phänomenal!« sagte Roman.
Ich besaß eine kleine Ammonite; Pala hatte sie mir geschenkt, als ich elf oder zwölf war. Man fand sie im Himalaya. Die Nepali sahen in ihnen eine der unzähligen Verkörperungen Vishnus, Schöpfer und Erhalter der Welt. Vor 250 Millionen Jahren, als die ersten Reptilien auftraten, bedeckte das Hochland zwischen Indien und Zentralasien die Thetis, das gewaltige Urmeer. Die Geburt des Himalayas begann zweihundert Millionen Jahre später, als das austrocknende Meer Sedimentgestein bildete. Das Primärgebirge und die tiefen Meeresschluchten der Thetis türmten sich auf; Gletscher formten sich, Sturzbäche aus Lava glühten im Dampf der Wolkenbrüche, gewaltige Flüsse schwangen sich durch Steppen und Urwald. Die Berge schwollen heran, bekämpften die Schwerkraft des Erdensterns; Sonne und Mond rissen sie hoch, schleuderten sie weit über die Lufthülle hinaus. Nun war die Macht der ersten Schöpfungstage verausgabt, die Wucht des Ansturms gebrochen, doch die Kräfte standen noch nicht auf der Seite des Zerfalls. Die Berge lebten ihr Felsenleben, mit den Sternen verwandt, aus dem Urschlamm geboren.
»Die Entstehung der Kontinente«, murmelte Roman. »Als ob wir sie mit eigenen Augen erlebten.«
Ich lächelte.
»Vielleicht sprechen die Berge.«
Er ging plaudernd darauf ein.
»Haben sie uns etwas zu sagen?«
»Jedem Stein ist eine Kraft zu eigen. Wenn du deine Handfläche seiner Form anpaßt, hörst du sein Herz schlagen. Auf diese Weise spricht er zu
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