Die Tiefe einer Seele
das haben wir nicht gewollt!«, flüsterte Samuel mit zittriger Stimme, und auch sein Zwillingsbruder starrte den Vater entsetzt an.
»Das weiß ich, mein Sohn!«, antwortete der Pastor milde, aber bestimmt. »Wir alle haben das nicht gewollt. Doch es gibt keinen anderen Weg. Und jetzt geht und bringt Eure Mutter nach Hause, ich werde Rektor Brockmann über meine Entscheidung informieren und mit ihm beraten, wie es weitergeht.«
Die Zwillinge gehorchten dem Vater, nahmen die völlig verstörte Magda in die Mitte und zogen sie aus dem kleinen Büro.
Egidius Johannson blieb alleine zurück. »Möge Gott mir vergeben!«, flüsterte er verzweifelt und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Kapitel 11
14. Mai 2013– In der Nähe von Berlin
»Warum willst Du das wissen, es betrifft Dich nicht!« Amelie sprach so leise, dass James sie kaum verstehen konnte. Der dunkelhaarige Mann hielt ihr das Eis hin, das sie mit zitternden Händen entgegennahm und deutete auf den saftig grünen Rasen, der geradezu zwingend zum Verweilen einlud. Amelie kam der stillen Aufforderung nach und ließ sich nieder. Sie senkte ihr Haupt. Aber aufgrund ihrer zurückgebundenen Haare konnte James problemlos erkennen, dass nicht nur die Farbe ihres Gesichtes wechselte, von blass zu rot und umgekehrt, sondern ebenso, dass es in ihrem Köpfchen ordentlich arbeitete.
»Ich will es deswegen wissen, Amy, weil es einfach nicht ins Bild passt, dass ausgerechnet Du versuchst, Dich umzubringen. Weißt Du, ich habe dich kennengelernt als eine ziemlich beeindruckende Person. Mit einer fürchterlichen, aber irgendwie auch süßen, spitzen Zunge, selbstbewusst, klug und vermeintlich mitten im Leben stehend. Und dann sehe ich diese Narben an Deinem Handgelenk, die Angst und den Schmerz in Deinen Augen. Sehe Dich völlig verunsichert und hilfsbedürftig, nur um einen Moment später wieder die andere Amelie Johannson präsentiert zu bekommen. Das kannst Du nicht mit mir machen, Amy! Es bringt mich um den Verstand. Seit gestern Abend habe ich fast pausenlos gegrübelt, was mit Dir los ist. Lass Dir doch helfen, bitte. Ich spüre einfach, dass wir zwei gute Freunde werden könnten, aber damit das so sein kann, muss ich Deine Geschichte kennen, verstehst Du das?« Seine Worte hatten keinen Zweifel an der Dringlichkeit seines Wunsches gelassen, dennoch schien das bei ihr nicht angekommen zu sein.
»Und? Was ist nun? Ich warte!« Er würde nicht nachgeben, diesmal nicht. Aufmerksam beobachte er die junge Frau, denn er rechnete sogar damit, dass sie versuchen würde, zu fliehen. Sollte sie es nur probieren, sie würde schon sehen, was sie davon hätte, und die gelangweilten Reisenden, die sich an der Autobahnraststätte aufhielten, würden sich über ein bisschen Abwechslung bestimmt freuen. Denn er würde sie ganz sicher wieder einfangen. Schneller als sie gucken konnte. Nach weiteren quälenden Momenten des eisernen Schweigens wünschte James sich gar, sie würde wirklich versuchen, auszubüxen. Oder ihn anschreien, überhaupt eine menschliche Regung von sich geben. Aber Amelie dachte offensichtlich nicht daran, in irgendeiner Weise noch näher auf sein Anliegen einzugehen. Sie hockte teilnahmslos auf dem Grün und schleckte wie hypnotisiert an ihrem Eis, ignorierte ihn einfach. James kauerte sich neben sie und drückte ihr seinen Zeigefinger ins Schulterblatt.
»Du kannst ruhig auf taubstumm und blind machen, Amelie Johannson, das wird Dir rein gar nichts nützen. Wir werden hier bleiben, bis Du Deine Klappe aufbekommen hast, und wenn es bis zum St. Nimmerleinstag dauern wird. Kein Problem für mich, ich bin geduldig wie eine kleine Ziege.«
Amelie blickte verdutzt auf. Gerade noch war sie auf einem anderen Stern gewesen, aber seine Worte hatten sie schlagartig ins Hier und Jetzt zurückkatapultiert. Und sie reagierte mal wieder völlig unerwartet. »Grundgütiger!« lachte sie schallend los. »Man stelle sich den lieben James Anthony Prescott nur mal als ein kleines Zicklein vor. Nein, besser doch nicht, ich würde Bauchschmerzen vom vielen Lachen bekommen. Du wolltest mir höchstwahrscheinlich sagen, dass Du geduldig wie ein Lamm bist, nicht wahr? Diese Redewendung leitet sich ab von einer Passage aus dem Alten Testament, genauer gesagt aus dem Buch Jesaja. Da geht es um das Lamm, das sich geduldig zur Schlachtbank führen lässt. Sehr schöner Vergleich, aber für Dich irgendwie nicht ganz zutreffend. Ich würde eher meinen, dass Du nicht
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