Die Tiefe einer Seele
Ratlosigkeit in den Augen der Jugendlichen. Ein Anblick, der den erfahrenen Pädagogen nicht unberührt ließ, im Gegenteil, das Mitgefühl für diese armen Menschengestalten machte sein Herz schwer und seine Atmung unruhig. Er hätte den Johannsons gerne etwas anderes gesagt, hätte ihnen am liebsten diesen zusätzlichen Kummer erspart, aber er hatte keine Wahl, denn als Leiter der Schule trug er eine Verantwortung. Für jeden in dieser Einrichtung. Ausnahmslos!
Jonas und Samuel Johannson waren vor dem 15. März des Jahres in keinster Weise auffällige Schüler gewesen. Gutes Mittelmaß ja, nicht mehr und nicht weniger. Überwiegend korrekt in ihrem Benehmen mit ein paar Ausnahmen, aber das unterschied sie in Nichts von ihren Altersgenossen. Das hatte sich geändert, nachdem das mit ihrer Schwester geschehen war. Nicht nur, dass ihre Leistungen seitdem in nahezu allen Unterrichtsfächern zu wünschen übrig ließen, einem »genügend« nicht annähernd entsprachen. Nein, die beiden hatten sich scheinbar auch vorgenommen, die Penne so richtig aufzumischen, um in der Sprache seiner Schüler zu bleiben. Es war mehr als eindeutig, dass das eine unmittelbare Reaktion auf den Suizidversuch ihrer Schwester war. Unzählige Male hatten er und die Kollegen versucht, die Zwillinge diesbezüglich anzusprechen, aber sie mauerten, ließen niemanden an sich heran. Machten weiter ihr eigenes Ding. Auch die Eltern hatte er mehrfach auf das Verhalten von Jonas und Samuel hingewiesen, doch das Ehepaar war einfach heillos überfordert mit der Gesamtsituation.
»Heißt das, Sie werden unsere Jungs der Schule verweisen?« Die Frage von Magda Johannson war kaum vernehmbar. Die Angst und Verzweiflung nahm der Stimme jegliche Kraft. Soviel hatte diese Frau immer zu sagen gehabt, und noch mehr hatte sie sich über ihre Schreiberei ausdrücken können. Seit dem 15. März war alles anders. Seitdem war sie stetig stiller geworden und das Schreiben hatte sie vollkommen eingestellt. Sie konnte einfach nicht. Sie wollte nicht. All ihre verbliebene Energie hatte sie auf ihre Tochter konzentriert, dabei vielleicht vergessen, dass sie vier weitere Kinder hatte. Etwas, dass sich jetzt fatal rächte, wie es schien.
»Das wäre an und für sich die logische Schlussfolgerung«, erwiderte der Rektor. »Dennoch möchte ich in Übereinstimmung mit dem Lehrerkollegium zunächst davon absehen. Das ist einzig und allein der schwierigen Zeit geschuldet, die Ihre Söhne derzeit durchmachen. Sollte sich jedoch an dem Verhalten der zwei in Zukunft nichts ändern, wird mir keine Wahl bleiben, das muss ich in aller Deutlichkeit sagen. Für den Moment lasse ich sie mit einem blauen Auge davonkommen. Jonas und Samuel bekommen eine schriftliche Rüge und eine angemessene Strafe. Wie Letztere aussehen wird, das möchte ich mit den Kollegen und auch mit Ihnen zunächst beraten. Sie sollten jetzt erstmal mit Ihren Söhnen allein sprechen. Ich werde so lange draußen warten.« Rektor Brockmann erhob sich von seinem Stuhl und verließ das Zimmer.
Egidius Johannson stand ebenfalls auf. Er ging ans Fenster und schaute auf die Dünen hinaus. Seine Wut war verraucht, aber er spürte wiederum diese Machtlosigkeit, genau wie vor drei Monaten, als er auf der Intensivstation in Wittmund vor dem Bett seiner Tochter gestanden hatte. Die Machtlosigkeit und die furchtbare Gewissheit, dass ihm sein Leben immer mehr aus den Händen glitt, dass das Glück einstiger Tage dahin war. Endgültig! Der Pastor war kaum wiederzuerkennen. Er hatte stark abgenommen seit letztem März und er war schlagartig ergraut. Seinen Beruf, in dem er doch so vollends aufgegangen war, übte er zurzeit nicht aus. Auf eigenen Wunsch hin hatte der Landessuperintendent in Esens ihn vorerst von seinen Pflichten entbunden. Egidius Johannson interessierte das alles momentan einfach nicht. Er wollte sich ganz auf Amelie und deren Genesung konzentrieren. Entgegen dem Rat der Ärzte hatte er seine Tochter nach ihrem stationären Aufenthalt und der vernichtenden Diagnose »Depression« nach Hause geholt. Hatte sich gemeinsam mit seiner Frau rund um die Uhr um sie gekümmert. Magda und er hatten sich für eine ambulante Therapie entschieden, weil sie ihr Kind bei sich wissen wollten. Zweimal pro Woche waren sie mit Amelie nach Wittmund gefahren und hatten sie dort behandeln lassen. Doch bislang war das wenig erfolgreich gewesen. Ihre Tochter hatte sich verschlossen wie eine Auster, war niedergeschlagen und wortkarg,
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