Die Tiefe einer Seele
brauchte es, bis sie endlich online war. Kein Wunder, es musste ja so kommen: iPad monatelang in Pastors Regal. Logische Konsequenz: Akku leer! Amelie wie ein Wiesel nach unten, kein Aufladekabel in Papas Büro, natürlich. Schrei nach Mama! Mama ratlos, aber hilfreich beim Suchen. Schließlich fündig werdend in dem Originalkarton des Geräts, welcher zweckentfremdet als Zwiebelvorratskiste im Hauswirtschaftsraum sein Dasein fristete. Amelie wie der Blitz wieder nach oben, iPad ans Kabel, power on et voilà.
Der Bildschirm flackerte ein wenig, dann war er da. Endlich!
»Hallo«, sagte sie leise.
James hatte bis eben noch den Blick in dem Zimmer, das Amelie als eine Bibliothek identifizierte, unruhig umherwandern lassen. Doch als er ihre Stimme vernahm, schenkte er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Hallo«, begrüßte er sie freudestrahlend mit einer gehörigen Portion Schalk in den Augen. »Herrje, musstest Du erst einen Computer kaufen, eventuell gar backen, oder warum hat das so ewig lange gedauert.«
Amelie schaute ihn tadelnd, aber auch augenzwinkernd an »Mr. Prescott, zügeln sie Ihre Zunge. Sonst kappe ich die Leitung schneller als Sie gucken können.«
»Nein, bitte nicht! Ich reiß mich jetzt zusammen. Und? Vermisst Du mich schon?«
»Was? Natürlich nicht! Hast Du etwa mal gehört, dass man eine Magen-Darm-Grippe vermisst?«
James lachte laut auf. »Mal wieder charmant wie eine Kettensäge, junge Dame, was? Aber ich habe Dich durchschaut. Selbstverständlich vermisst Du mich, genauso wie ich Dich übrigens.«
Amelie wurde gleichzeitig heiß und kalt, und sie musste schlucken. Was war bloß los mit ihr? Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen gehabt, dieses komische Ding, was da zwischen ihnen ablief, ein für alle Mal zu beenden, aber so einfach war das scheinbar nicht.
»Kann ich nachvollziehen, Sie sind ja auch ein bekennender Freund der anspruchsvollen Unterhaltung«, sagte sie stattdessen.
»Genau Miss Johannson! Gut erkannt! Und? Wie geht es Dir?«
Amelie biss sich auf die Lippe. Wieder diese Frage. Sie klebte wie Honig an ihr und das nun schon zehn Jahre lang.
»Das steht doch jetzt gar nicht zur Debatte, James. Erzähl Du lieber, was mit Deinem Vater ist!«
»Ich habe ihn noch nicht gesehen. Später werde ich mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen ins Krankenhaus fahren. So wie es aber aussieht, ist diesmal nicht sein Herz das Problem, sondern eher sein Kopf.«
»Oh nein, wirklich? Was ist es denn? Ein Schlaganfall? Ein Tumor?«
James musste wieder lachen, obwohl ihm momentan eigentlich so gar nicht danach zumute war. »Nein, keine Sorge, es ist nichts von dem. Er hat sich entschlossen, unser Familienunternehmen zu verkaufen. Einfach so!«
»Euer Familienunternehmen? Echt? Hättest Du übrigens ruhig mal erwähnen können, dass Du stinkreich bist«
»Wie jetzt? Outest Du Dich etwa als Mitgiftjägerin? Da muss ich Dich leider enttäuschen. Wenn überhaupt, sind meine Eltern vermögend. Ich bin nur ein kleiner Reisejournalist, erinnerst Du Dich?«
Amelie schmunzelte. »So ein Mist! Hätte ja sein können. Das hätte Dich zumindest ein Stück weit sympathischer gemacht. Was ist das denn für ein Unternehmen?«
»Ein Medienkonzern. Er beinhaltet unter anderem ein Verlagshaus und einen Radio- und Fernsehsender.«
»Und warum will Dein Vater verkaufen? Seid Ihr pleite?«
»Nein, das nicht, jedenfalls nicht, dass ich es wüsste. Seine genauen Beweggründe kenne ich noch nicht, aber ich kann es mir schon denken. Die Nachfolge von meinem Vater gestaltet sich etwas schwierig, wahrscheinlich hat es damit zu tun.«
»Vielleicht ist das jetzt ein bisschen naiv von mir, aber wieso überlässt er Dir den Laden nicht? Du wärest doch als Journalist prädestiniert dafür.« Augenblicklich erkannte sie, wie James sich versteifte.
»Mag sein, ist aber auch egal. Erzähl mal lieber, wie ist das Wetter auf Spiekeroog? Du bist doch zuhause bei Deinen Eltern, oder nicht?«
»James Prescott, was ist denn das für ein billiges Ablenkungsmanöver? Ist ja schlimmer als in einem Groschenroman. Raus mit der Sprache! Das ist also das Problem, das Du mit Deinem Vater hast? Er will Dir die Firma nicht überlassen?«
»Amy bitte, ich möchte wirklich nicht darüber sprechen. Jedenfalls jetzt nicht. Vielleicht wenn ich wieder in Deutschland bin, ja?«
Amelie schüttelte verstimmt den Kopf, aber seine starre Haltung ließ keinen Zweifel zu. Er wollte über dieses Thema nicht reden.
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