Die Tiefe einer Seele
Zimmer hinter dem Westgiebel des im Mondlicht noch idyllischer wirkenden Friesenhaus der Johannsons. Amelie versuchte nun schon seit Stunden, der Nacht ein paar Stündchen Schlaf abzutrotzen. Eine vergebliche Mühe, stand sie sich doch selbst dabei im Weg. Mal wieder rasten die Gedanken in ihrem Kopf, ließen sie nicht zu Ruhe kommen, brachten sie ganz und gar durcheinander. Dabei waren es diesmal nicht jene unsäglichen Grübeleien, die sie immer weiter in eine grenzenlose Finsternis hineinzogen, aus welcher ein Entkommen nur schwerlich möglich war. Nein, momentan beschäftigten sie die Ereignisse der letzten Tage. Sie hörte seine Stimme, roch den Duft seines Aftershaves, fühlte seine Arme, die sie umfingen, und spürte seine Lippen, die sich fest auf ihre pressten. Ihr Herz pochte in einer Frequenz, die jeden Kardiologen in Alarmbereitschaft versetzen würde, und ihre Atmung glich der einer 200-Meter-Sprinterin nach dem Lauf in einem olympischen Finale. Sie fühlte sich total krank und gleichzeitig vor Gesundheit und Kraft strotzend. Konnte es denn wirklich sein? Hatte sie sich verliebt in diesen Mann, der ihr doch eigentlich fremd war? Von dem sie so gut wie nichts wusste, und der seinerseits nicht mal annähernd ahnte, mit wem er es zu tun bekommen hatte.
Amelie hatte noch nie so empfunden. Sicher hatte es Kontakte zum anderen Geschlecht gegeben, und sie hatte auch nette Kerle kennengelernt, aber viel mehr als ein paar Freundschaften und einige Momente körperlicher Erquickung war dabei nicht herumgekommen. Sie hatte es für ein Gerücht gehalten. Schmetterlinge oder gar Flugzeuge im Bauch, das waren für sie irrsinnige Erfindungen der Schlager- und Filmbranche gewesen. Und jetzt lag sie da in dem Bett ihres Mädchenzimmers, in dem sie schon so viele bittere Tränen geweint hatte. Versuchte krampfhaft dem Gefühl standzuhalten, das ihren Magen in eine Zentrifuge mit einer exorbitanten Schwingung zu verwandeln schien. Noch einmal drehte sie sich auf die andere Seite. Zum wiederholten Male in den letzten Stunden, sie hatte zum Glück nicht mitgezählt.
Und was, wenn er erfährt, was mit mir los ist? Die ganze verschissene Wahrheit? Er wird mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel!
Stirnrunzelnd setzte sie sich auf im Bett. Was reimte sie sich da bloß für einen Blödsinn zusammen? Natürlich kannte sie James erst seit kurzem, aber in einem war sie sich sicher. Er würde sie nicht einfach abservieren, dafür war er schlicht und ergreifend nicht der Typ. Und viel zu wohlerzogen. Unwillkürlich musste sie lächeln und daran denken, wie ihr seine Art anfänglich tierisch auf den Wecker gegangen war. Als ob er nicht so ganz von dieser Welt, aus dem Hier und Jetzt war. Verrückt der Mann! Einfühlsam und lieb, verständnisvoll und sanft. Dabei durchaus stark und selbstbewusst. Von seinem unverschämt guten Aussehen gar nicht erst zu reden. Amelie rieb sich irritiert die Augen.
Herrje, Du hörst Dich an, wie die Cheftexterin eines Dating-Portals. Schlimmer geht`s nimmer. Muss an dem Schlafmangel liegen oder an Mamas Kartoffelpuffer. Die soll man ja abends nicht essen, schon gar nicht kalt. Aber wenn ich sie nun mal so gerne mag und schließlich hat Mama mittags extra mehr gebacken. Weil sie wusste, dass ich komme und geahnt hat, dass ich die Finger einfach nicht von diesen Dingern lassen kann. Die waren aber auch sowas von lecker, verflixt. Habe ja nicht ahnen können, dass die Teile sich so negativ auf meinen Denkapparat auswirken.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. Unfassbar, was ihr Hirn da ausbrütete. Na ja, für ihren Geisteszustand waren die Kartoffelpuffer wohl eher nicht verantwortlich, aber möglicherweise für dieses komische Kribbeln im Bauch. Genau, das musste es sein. Leicht strichen ihre Finger über ihre Lippen. Sie dachte an den Moment, als James und sie sich geküsst hatten. Eine zarte Röte breitete sich aus auf ihrem Gesicht, und diese vermaledeite Zentrifuge warf erneut den Motor an. Also doch nicht die Kartoffelpuffer.
So ein Mist!
Ablenkung musste her, aber schnellstens. Sie schaltete die kleine Lampe am Kopfende ihres Bettes an und sah sich um. Auf ihrem Schreibtisch lag das iPad. Das war doch eine gute Idee. Sie würde ein wenig im Internet surfen, später könnte sie dann sicher einschlafen. Amelie stand auf und holte das Gerät zu sich ins Bett. Schnell steckte sie ihre Beine wieder unter die Decke. Es war unglaublich. Es war warm in dem Mansardenzimmer, aber ihre Füße
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