Die Tiefe einer Seele
vorzustehen. Aber Magda hatte ihm da eindringlich ins Gewissen geredet. »Es nützt nichts, wenn Du sie mit Deiner Sorge erdrückst«, hatte sie gemeint und ihm von dem Gespräch mit ihr am Tag zuvor berichtet. Überzeugt hatte ihn letztendlich sein jüngster Sohn, Elias. Der Neunzehnjährige hatte gerade sein Abitur erfolgreich in die Tasche gesteckt, würde demnächst von Spiekeroog weggehen, um ein Architekturstudium in Magdeburg aufzunehmen, und somit als Letztes der Johannson-Kinder das elterliche Haus verlassen. Elias war vielleicht der Einzige, der einen direkten Zugang zu Amelie hatte, wenn sie in dieser düsteren Stimmung war. Ganz einfach, weil er diese ignorierte. Das war nicht immer so gewesen, lange Jahre hatte ihn die Erkrankung seiner Schwester vollkommen eingeschüchtert, und er war Amelie aus dem Weg gegangen, wo er nur konnte. Geändert hatte sich das, als sie nach ihrem zweiten Suizidversuch und der daran anschließenden Therapie in Emden nach Hause gekommen war. Damals hatte er sehr viel Zeit mit ihr verbracht und Seiten an ihr kennengelernt, die ihm vorher völlig fremd gewesen waren. Zum Beispiel ihren umwerfenden Humor und den wahnsinnigen Schalk, der in ihr schlummerte und den sie nach ihrer Heimkehr durchaus auch ausgelebt hatte. Dabei war das Durchwerfen von Fröschen durch den Briefschlitz der nachbarlichen Haustür noch einer der harmloseren Streiche gewesen. Und das, obwohl sie in jenen Tagen bereits 20 Lenze gezählt hatte. Elias hatte in dieser Zeit aufgehört, Amelie auf ihre Depressionen zu reduzieren. Er hatte sie auch nicht mehr links liegen zu lassen. Hatte von nun an, wenn sie in seiner Nähe war, immer die lachende und lustige Schwester vor Augen, selbst wenn genau das Gegenteil der Fall war. So wie jetzt zum Beispiel. Doch das kümmerte ihn nicht, und deswegen hatte er keinerlei Bedenken, seinen Vater zu dieser Beisetzung zu schicken.
»Du musst Dir keinen Kopf machen, ich werde sie schon auf andere Gedanken bringen«, hatte er gemeint und Egidius Johannson hatte schließlich nachgegeben. Als der alte Friedrichsen unter der Erde und der Pastor wieder zuhause war, kamen seine Sprösslinge gerade von einer Wattwanderung zurück. Völlig durchnässt waren sie, aber Amelie schien halbwegs entspannt zu sein. Das hatte allerdings nur eine knappe Stunde vorgehalten, dann war er erneut da, dieser dunkle Schatten, der sie wie eine böse Verheißung verfolgte und umgab.
Egidius Johannson konnte kaum die Finger stillhalten, was heißen sollte, dass er seine Tochter am liebsten kräftig geschüttelt hätte. Als wenn sie ein Apfelbaum wäre, der seine halbfaulen Früchte nur auf diese Art und Weise fallen lassen konnte, aber er zwang sich zur Ruhe. Die Ärzte hatten ihnen das immer wieder nahegelegt. Dass sie Geduld haben müssten. Geduld! Mittlerweile hatte er schon lange nicht mehr das Gefühl, dass es die Geduld war, sie gesunden zu sehen, die diese Weißkittel meinten, sondern viel eher die Geduld, dass sie endlich schaffen würde, was sowieso unabdingbar schien. Er wollte sie ja haben, die Hoffnung und die Zuversicht. Aber es war schwer, sich das zu bewahren, wenn man bei jedem Klingeln des Telefons zusammenzuckte, in der Befürchtung, dass es wieder passiert war und das wohlmöglich noch erfolgreich. Der Pastor zündete eine Kerze an, die auf seinem Schreibtisch stand. Er starrte auf die kleine Flamme, zentrierte seine Konzentration auf ihr Flackern und fand binnen weniger Minuten endlich zu dem ersehnten Frieden, auch wenn es nur ein Frieden auf Zeit war, das ahnte er schmerzlich.
»Papa, hättest Du vielleicht einen Moment Zeit für mich?«
Es waren nur neun Worte. Neun winzige und eigentlich harmlose Worte. Allerdings neun Worte, die für Egidius Johannson in diesem Augenblick die ganze Welt bedeuteten. Ungläubig schaute er auf und sah seine Tochter im Türrahmen stehen. Blass und verlegen, unsicher und nervös, aber dennoch irgendwie zielgerichtet. Der Pastor konnte es nicht fassen. In all den Jahren ihrer Krankheit war Amelie nie, wirklich niemals, wenn sie in einer dieser verdammten, negativen Stimmungen war, welche im schlimmsten Fall in die Depression geführt hatten, auf ihn zugekommen. Hatte ihn um Rat gefragt, um Hilfe gebeten. Wobei er doch auch jetzt gar nicht wusste, ob sie das wirklich vorhatte. Nein, wissen konnte er das nicht, aber er fühlte es. Fühlte, dass er nun endlich eine Chance bekäme. Eine Möglichkeit, ihr zu helfen und voller Inbrunst entsendete er
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