Die Tiefe einer Seele
durch ein furchtbares Unglück gestorben war. Schlussendlich schilderte sie unter Tränen den Vorfall am frühen Morgen, das Gespräch mit ihm, seine abweisende Reaktion und das unschöne Ende.
Egidius hatte ihr aufmerksam und ruhig zugehört. Doch diese Ruhe, das war nach wie vor nur eine Fassade. Mehr denn je sogar. In seinem Innern brodelte es gewaltig, war er ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Das ging einfach nicht. Dieser Mann ging einfach nicht. Viel zu viel Ballast schleppte er mit sich herum. Eine Last, die seine Tochter, welche ja selbst ein schweres Päckchen zu tragen hatte, wohlmöglich am Ende erdrücken würde. Darum wollte er aufschreien. Wollte es laut kundtun, dass sie die Finger von diesem James lassen sollte, dass er nichts für sie wäre, und sie ihn vergessen müsste. Aber er tat es nicht. Weil ihm das nicht zustand. Und auch das Argument, dass er schließlich seine Tochter schützen musste, durfte in diesem Fall nicht gelten. Er konnte und durfte ihr diese Entscheidung nicht abnehmen. Sie war zu ihm gekommen, weil sie seinen Rat wollte und nicht etwa, weil sie wollte, dass er das Ruder für sie übernahm. Das wusste er instinktiv. Würde er es dennoch tun, dann würde sie ihm das sicher eines Tages übel nehmen. Amelie musste ihr eigenes Ding machen und alles, was er tun konnte, war, sie zu unterstützen.
»Liebes«, sagte er deswegen mit sachter Stimme. »Natürlich war es nicht schön von diesem jungen Mann, dass er sich Dir gegenüber so benommen hat. Aber er scheint doch unter einem immensen Druck zu stehen, daher solltest Du ihm das nachsehen. Außerdem hast Du Dich auch nicht korrekt verhalten, indem Du das Gespräch einfach so beendet und auch nicht auf seine SMS reagiert hast. Das ist störrisch und unvernünftig, Amelie Johannson. Er hat sich doch entschuldigt. Also spring über Deinen Schatten und ruf ihn an. Nur wenn Ihr darüber redet, könnt Ihr das aus der Welt schaffen. Ich weiß, dass Dir das schwerfällt, aber falls Du wirklich an ihm festhalten möchtest, dann musst Du auf ihn zugehen. Wirst Du das hinbekommen, Amelie?«
Seine Tochter antwortete nicht, brauchte sie auch nicht, denn wieder leuchteten ihre Augen auf und gaben ihre Gedanken preis.
Ein paar Stunden später stand Amelie mit ihrem Handy in der Hand am Fenster ihres Mädchenzimmers und blickte auf das tosende Meer. Es war kurz vor 20 Uhr. Sie hatte sich gut überlegt, was sie James sagen wollte und sie hoffte, dass dieser kleine Disput zwischen ihnen schon bald vergessen war. Als sie die Kurzwahl für James antippte, durchfuhr sie ohne Vorwarnung ein scharfer Schmerz. Sie konnte ihn nicht mal lokalisieren, er schien ihren ganzen Körper gnadenlos zu erfassen. Verzweifelt rang sie nach Luft und suchte Halt am Schreibtisch. Das Handy am Ohr signalisierte ihr durch das Freizeichen, das die Verbindung aufgebaut wurde, dass er nur noch annehmen musste, dann würde er wieder bei ihr sein. Plötzlich hörte sie seine Stimme, aber leider war es nur die Mailbox.
»James«, keuchte sie angestrengt. »Hier ist Amy. Ich denke, wir müssen reden. Ich warte auf Deinen Rückruf.«
Das Handy fest umklammernd und mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte sie sich zu ihrem Bett und ließ sich auf die Matratze fallen. Du meine Güte, was war bloß los mit ihr?
Kapitel 28
19. Mai 2013 – Spiekeroog
Der Himmel war grau und trübe über Spiekeroog. Lichtjahre entfernt erschienen die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne, die sie noch in Berlin umschmeichelt hatten. Seit ihrer Ankunft auf dem kleinen Eiland in der Nordsee hatte die goldene Kugel am Firmament sich nicht mehr blicken lassen. Das Wetter war so, wie sie sich fühlte. Nach zwei Tagen ohne jegliches Wort, ohne ein Zeichen von ihm.
Amelie setzte sich in den klammen Sand des Nordstrandes und zog sich Schuhe und Strümpfe aus. Ihr war kalt, sehr kalt sogar, aber sie brauchte jetzt einen Marsch durch die zischende Gischt des Meeres, in der Hoffnung, dass es ihre Gedanken aufhellen und ihr Klarheit bringen würde. Sie stand auf, tauchte vorsichtig einen Fuß in das lebhafte Wasser der Nordsee und erstarrte. Verdammt, das war wirklich saukalt. Doch sie biss die Zähne zusammen und zog dann den anderen Fuß nach. Für einen Moment blieb sie so stehen. Eine bezaubernde, wenn auch etwas traurige junge Frau, die mit ihren Schuhen in den Händen hinausblickte auf die See, und der eine gewisse Erwartung ins Gesicht geschrieben war. Nämlich jene, hier
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