Die Tochter der Konkubine
Gefühle, die sie beim Gedanken an Ben im Herzen verspürte, waren weit mehr als Dankbarkeit. Sie ging nach vorn zum Bug der Golden Sky , betrachtete das grüne Licht der Positionslampe am Bug, die fernen Lichter von Macao wie eine glitzernde Kette am Horizont aufgefädelt, bis der helle Mond und die sanfte Meeresbrise ihr Seelenruhe gegeben hatten.
»Feuer im Wasser. Für das habe ich es gehalten, als ich als Junge das erste Mal zur See gefahren bin.« Ben hatte sich auf leisen Sohlen zu ihr gesellt. Die Gespenster einer Vergangenheit, die er sich kaum vorstellen konnte, das Unrecht, das sie mit solcher Würde aus der Welt geschafft hatte, hatten ihn zutiefst bewegt. Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie lehnte sich mit einem Gefühl der Zugehörigkeit an ihn, das sie nie gekannt hatte.
»Bedeutet Liebe Dankbarkeit?«, fragte sie kaum hörbar.
»Unter Umständen«, erwiderte er ebenso leise.
»Bedeutet es auch, dass man vor allem nur an eine Person denkt … am Morgen, wenn man den ersten Vögeln lauscht, und abends, wenn man die Augen schließt? Und wenn diese Person so vollständig die Leere im Herzen füllt, dass für eine andere kein Platz mehr bleibt … ist das dann auch das, was mit Liebe gemeint ist?«
»Nach allem, was ich darüber weiß«, flüsterte Ben, »ist es das.«
Sie drehte sich zu ihm um, streckte die Arme nach ihm aus und spürte, wie er sie fest an sich zog. »Wenn Sie mich immer noch als Ihre tai-tai haben möchten, junger Herr, dann werde ich das von ganzem Herzen und aus tiefster Seele sein …«
Er unterbrach ihren Redefluss mit einem ersten Kuss. »Ja, würdest du meine tai-tai werden, wäre ich ein stolzer und glücklicher Mann … Aber nur, wenn du mich Ben nennst.«
14. KAPITEL
Der Gelbe Drachen
Zurück in Sky House, fiel Li in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen wachte sie später als gewöhnlich auf. Ein quadratischer gelber Umschlag, der unter der Tür hineingeschoben worden war, lag auf dem Boden. Er trug weder einen Namen noch eine Adresse. Er hatte etwas seltsam Unheilvolles an sich, so dass sie zögerte, ihn zu berühren. Sie überlegte, wieso er da sein könnte und wer ihn hergebracht haben mochte. Eigentlich konnte er nur von Ben sein, entschied sie erleichtert.
Sie hob den Umschlag auf und entdeckte auf der Unterseite ein Wachssiegel, auf dem sich ihr unbekannte Schriftzeichen befanden. Nachdem sie es aufgebrochen hatte, zog sie ein gefaltetes Viereck desselben steifen, gelben Papiers hervor. Auf der Vorderseite fehlte die Mitte: ein unregelmäßiges Loch, weder geschnitten noch gebrannt, umrahmte ein einziges chinesisches Schriftzeichen aus derselben alten Schrift wie auf dem Siegel. Das war alles.
In Bens großer und fähiger Hand wirkte der Umschlag klein und unbedeutend. Als er das gelbe Papier mit dem Loch in der Mitte untersuchte, beobachtete Li ihn genau. Sie war damit geradewegs in sein Büro gegangen und saß ihm nun gegenüber. Er starrte es schweigend an, hielt es behutsam an den Rändern, schnupperte sorgfältig daran und legte es dann auf den Schreibtisch. Seine Miene blieb ausdruckslos. Einen Augenblick schwieg er und blickte in den Garten hinaus.
In der Nacht war das Wetter umgeschlagen. Der Himmel war bedeckt, und Windböen zerrten an den Bäumen. Im Kamin brannte
ein Holzfeuer. Li kam es vor, als hätte sich zwischen ihnen eine große Kluft aufgetan. Unvermittelt verspürte sie das Bedürfnis, zu ihm zu gehen, ihm ihre Unterstützung zuzusichern, ihn zu beruhigen … doch seine Miene ließ das nicht zu.
Sie bemühte sich, die Unsicherheit in ihrer Stimme zu verbergen. »Es besorgt dich. Kannst du mir sagen, was es bedeutet? Wenn wir eins werden wollen, müssen wir alle Dinge teilen.«
Bens Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, als er sich auf seinem Stuhl umdrehte und sie ansah. Es war, als hätte er sie noch nie angelacht, dachte sie.
»Du hast recht. Es gibt da etwas, worüber ich schon längst mit dir hätte sprechen sollen.« Er beugte sich vor, und seine Stimme war so vorsichtig wie sein Blick. »Von der Triade hast du schon gehört … der schwarzen Gesellschaft?«
Sie nickte. »Davon habe ich gehört.«
»Es gibt da eine Gesellschaft, die sich Gelber Drachen nennt«, fuhr Ben fort. »Ihr südlicher Sitz liegt in Hongkong, aber ihre Brüder sind überall. Das da auf dem Siegel ist ihr Zeichen.« Aus seinem Gesicht wich alle Farbe, sein Blick schnellte zum bewegten Himmel empor. Doch in diesem kurzen Augenblick hatte Li
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